laut.de-Kritik
Hörenswerte, viersprachige Reggae-Poesie mit 60er- und 70er-Vibe.
Review von Philipp KauseDer Schweizer Elia a.k.a. Elijah Salomon kletterte mit seinem letzten Album "Eat Ripe Fruit" im Spätsommer 2014 auf Rang 21 der eidgenössischen Charts. Opener und Single war "Power To The People", bis heute einer der schönsten Tracks des Retro-Roots-Reggae-Revivals. Selbst, wenn genau dieser Tune aus Zürich statt aus Jamaika stammte. Auf "Salomon" textet der Singer/Songwriter teils in Schwyzerdütsch (fünf Mal), oft in Englisch (sieben Mal), daneben erklingen Italienisch - in "Il Tuo Mondo" - und Mandinke, in "You Never Know ft. King Kora + Sambou Suso".
Man könnte den Zürcher Akustikgitarristen und Flötisten als eine Art 'Alpen-Jahcoustix plus einordnen: Was sein Münchener Kollege dafür getan hat, schlichte akustische Tracks als eine Darstellungsform von Reggae populär zu machen und in kleinen Clubs sowie auf großen Festivals großartige Stimmung zu erzeugen, das tat Elijah bei den Eidgenossen.
Allerdings pflegt der Artist einen starken inhaltlichen und physischen Bezug zur Karibik-Insel. Ebenso legt er die Wurzeln der progressiven europäischen Offbeat-Musik frei. Für die Platte beanspruchte er damals sowohl die Tuff Gong Studios (Marley lässt grüßen) als auch die Hilfe von Produzent Joe Ariwa von Londons Dub-Label Number One: Ariwa.
Nun ist Elijah nach langer Pause auf Longplay-Länge zurück und zieht Stücke aus dem Ärmel, die manche Reggae-Freaks zu Tränen rühren werden, entstanden sie doch noch zu Lebzeiten des famosen Bobby 'Digital' Dixon. Mit "Through The Blues", "Three O'Clock", "Running From Yourself", "Wänns Nöd Erwartisch" und "So Lang" sind fünf der finalen Aufnahmen des stilprägenden Pioniers vertreten. Der Produzent und Toningenieur aus Kingston starb im ersten Lockdown mit nur 59 (allerdings nicht an Corona, sondern an Nierenversagen). Das löste viel Trauer in der Szene aus.
Seine stringente Art, kompakte Tunes zu fertigen, merkt man dem "Salomon"-Album noch ein letztes Mal an. Dixon hatte in den 80ern die ersten Computer-gefertigten Loops in den Dancehall eingeführt und wurde tausendfach kopiert, was ihm den Beinamen "Digital" einbrachte - gleichwohl bei Elijah hier nun alles organisch und null Komma null computerisiert klingt: Die Overdubs nimmt man kaum wahr. Auf Dixons Konto gingen auch andere geschichtsträchtige Klangkolorite, etwa der Großteil der Riddims unter der Stimme des potenziellen Bob Marley-'Nachfolgers' Garnet Silk oder "Gideon Boot" vom ebenso hoch gehandelten Marley-Erben Richie Spice. Den Spice-Hymnen musiziert Elijah ebenbürtig und stilistisch ähnlich.
Dabei tritt er selten puristisch auf, aber einmal dann doch - fast so, als wäre es eine Geschichtsstunde. So streut Herr Salomon einen Klavier verzierten Ska ein: "Drive". Und zwar revitalisiert er wirklich karibisch klingenden Ska, keinen Latin- oder Punk-Ska, keinen Pseudo-Hipster-Vintage-Ska oder andere Kompromisse, wie man sie heute weitaus öfter findet. So kommt der 36-Jährige zusammen mit seiner One Camp Crew dem Ursprung von Pionier-Ensembles wie Byron Lee & The Dragonaires recht nahe.
"So Lang" entstaubt eine schöne, alte Nische von Patina, den Rocksteady-Soul, und zwar in vortrefflich ästhetischer Qualität, romantisch, vielschichtig arrangiert, aber hart in den Drums. Und der Künstler spielt eben auch Querflöte, wie in "Running From Yourself" und in der Ballade "Wiit Wegg" zu vernehmen. Sie wirkt erfrischend, weil kein typisches Instrument der Popkultur.
Was die Roots-Nummern angeht: "Auge Nur Für Dich" ist zwar nicht mehr als ein schlichter Verliebtsein-Song, aber in seiner Art doch wieder besonders. Das lässig vibende Stück beginnt so, als könne ein Surf-Rock-Tune daraus werden. Der warme weiche Urlaubs-Sound der ersten Strophe lässt vermuten, der Sänger bewerbe sich für eine Pop-Reggae-Compilation mit locker flockiger Insel-Brise.
Sobald die Fender Rhodes bei Minute 0:45 einsetzen und noch Saxophon-Verzierungen von Dean Fraser höchstpersönlich den Song komplett machen, spürt man das Eintauchen in die Edelklasse des Roots-Genres. Aber selbst ein Riddim mit skelettartiger Basis wie "Wänns Nöd Erwartisch" trägt über seine vier Minuten, bleibt elastisch und catchy. Die entspannte Dankbarkeits-Hymne fügt sich textlich um einiges mehr ins Roots-Genre als vieles, was Jamaika selbst heute auf den Markt spuckt.
"Through The Blues" nutzt eine interessante, dynamische und lebendige Stimmkombi aus dem kläffenden Organ Ras Charmers, Falsettgesang von Elijah und dessen normaler Sing-Tonlage. Charmer liegt im Timbre ungefähr zwischen Junior Kelly und Everton Blender, was für sich genommen erst mal einen Hinhör-Effekt darstellt. Wenn zwischen schwyzerdütschen Liedern auf einmal Patois-gefärbtes Englisch ertönt, sorgt das für einen weiteren Earcatch-Moment. Der Kontrast der beiden Interpreten funktioniert außerordentlich gut. Hinzu kommt der hohe Melodieanteil und das mehrstimmige Harmonie-Arrangement. Es freut, wenn zwei Leute in diesem Metier wirklich singen können und Lust am Schwelgen in klassischen Akkordfolgen haben.
Falsett-Vocals vereinnahmen noch an anderer Stelle, beim bereits 2019 gedroppten "Herz Vomene Loi" (jetzt nur auf CD, nicht in der Vinyl-Edition). Dieses Stück knüpft so überwältigend authentisch nostalgisch an die Sounds von um 1972 an, dass wahrscheinlich auch Sebastian Sturm es gerne geschrieben hätte. Fans von Ken Boothe und Toots & The Maytals dürfen aufhorchen. Die 'Griot'- und Afropop-Anklänge aus Gambia in "Fatoumata" und "You Never Know ft. King Kora + Sambou Suso" erweitern das Spektrum malerisch, im zweiten Beispiel sogar nahe an Touré Kunda. Die kleine Klangreise wird mit zahlreichen eingängigen Bläser-Riffs zu einer lohnenswerten Tour durch die Welt der Blue Notes, auf der CD-Version toppt noch ein stimmungsvoller Party-Hidden-Track das Rhythm Fever des kompletten Albums.
3 Kommentare mit 25 Antworten
Guten Tag mein Herr, darf ich Ihnen "kulturelle Aneignung" vorstellen?
Warum gab es noch keinen Shitstorm gegen Gentleman? Oder habe ich den nur nicht mitbekommen?
Hab ich die letzten paar Jahre echt auch schon öfters dran gedacht, gerade erst wieder als vor paar Wochen in der Schweiz paar mal diese "Venues canceln Reggaemusik mitten im Gig, weil Anwesende Unwohlsein beim Anblick der Dreadlocks einiger beteiligter weißer Musik empfinden"-Revue aufgeführt wurde.
Vielleicht ist Gentleman aber einfach zu irrelevant in der vom Alter her überlappenden Zielverkaufsgruppe und flog daher bisher komplett unterm Radar der neudeutsch woken Welle.
Und das ist natürlich auch Schwachfug. Wie so ziemlich alles, was Weiße unter sich als Rassismus auszumachen versuchen. Die Musik gehört verboten, weil sie cringe ist, nicht weil sie sich rassistischerweise Kultur aneigne.
Ich habe erst vor einigen Monaten im erweiterten Bekanntenkreis miterlebt, wie sich eine Mittdreißigerin angesichts eines anstehenden Gentleman-Konzerts gefreut ("voll schön, total cool") hat. Die verbindet damit schon eine gewisse Lebensfreude, die die gechillten und fröhlichen Jamaikaner an den Tag legen. Und ihr Freund hörte eine Zeit lang Haftbefehl, weil dieser im Feuilleton der Zeit gehypt wurde.
Des Rassismus sind diese Leute sonst unverdächtig.
Todestrafe für kulturelle Aneigner
"Die Musik gehört verboten, weil sie cringe ist"
Du würdest cringe nichtmal erkennen, wenn du ihn im Spiegel sehen würdest.
Als ich das erste mal von diesen "Protest-Aktionen" gegen "kulturelle Aneignung" gehört habe, dachte ich tatsächlich das wäre eine Satire-Aktion gewesen. Ideologische Verblendung ist hier schon ein Euphemismus. Das fassen einige ja noch als Kompliment auf. Ich würde es Hirnfrass nennen. Da sieht man schön, wie Trends Menschen hypnotisieren, vor allem diejenigen, die sich für total schlau und gebildet halten - ganz gefährlich, denn diese machen selten eine Rolle rückwärts und lassen sich noch Studien drum herum konzipieren. Einfach nur jämmerlich traurig.
Capsi, ich sehe Cringe doch täglich im Spiegel
Für mich ist inklusive mir selbst einfach alles da draußen Cringe. Hier nochmal dezent der Verweis an Black Hole Sun ...
Die gesündeste Einstellung überhaupt, mein Herzilein.
Falls "Dumm und Dümmer 3" jemals gedreht wird, sind die zwei Hauptdarsteller auf jeden Fall schon safe.
Den Film kenn ich gar nicht, wahrscheinlich sehr niveaulos
Es wird hingegen der allgemeinen Annahme ein sehr trauriger Film. In allen Belangen.
Ich gucke eh alles, wo Wiesel mitmacht. Alle Anderen hier sind mir zu langweilig und berechenbar.
Jojo, ich betone ja stets: ich war auch mal so. Wenn ich heute zurück blick, wie naiv ich jeden Moraltrend mitgegangen bin, muss ich schon sehr lachen. Daher stehe ich da total drüber, da ich selbst früher andere auch so angegangen bin. Da man sowieso bei kleinsten kritischen Tönen bereits so behandelt wird, macht es ja schon fast keinen Sinn mehr, nicht völlig alles in Frage zu stellen. Von daher ...
Du denkst von dir, dass du den Durchblick hast. Aber du bist nur ein Trottel mit viel zu viel freier Zeit...
Ich glaub eher, dass es sich genau umgekehrt verhält
ich denke sehr viele mensche auf laut habe viel durchblikk ich lese gern schlaue posts von hier es ist nich nur ein oder 2
Also glaubst du, dass du von dir denkst, dass du ein Trottel mit zu viel freier Zeit bist, aber eigentlich den Durchblick hast? In diesem Fall glaubst du aber, dass du den Durchblick hast, womit das nicht genau umgekehrt ist. Was wiederum zeigt, *dass* du ein Trottel bist. \square
(Damit ist fairis Aussage unwiderlegbar bewiesen)
Ja, genau. Erstklassig. Dann können ja jetzt alle beruhigt sein
Wann checken diese weißen Dreadheads eigentlich mal, wie sehr sie mit ihrer nachgeäfften, krass verspäteten "jamaikanischen" Musik nerven? Als wir Milchis den Rock&Roll oder Hip-Hop klauten, war das wenigstens noch halbwegs aktuell, und zumindest nicht ausnahmslos zum Fremdschämen.
Was wäre uns an Deutschrap erspart geblieben, wenn rechtzeitig den Fantas Einhalt geboten worden wäre.
Andererseits hätte es dann Bürger Lars Dietrich nie gegeben!
Auch wieder wahr. Den möchte ich nicht missen.
MC HOOBEE bester schweizer Rapper aller Zeiten!