laut.de-Kritik
Der Iggy Pop des Synthie-Pop.
Review von Michael SchuhZwei gerissene Sehnen am Sprunggelenk, die Nase angebrochen, Veilchen, Prellungen und Platzwunden: Nicht die Art von Souvenir, die man von einer Reise unbedingt mit nach Hause bringen möchte. Fad Gadget hatte keine Wahl, er musste seine 1983er Tournee vorzeitig abbrechen. Der Auftritt im Berliner Avantgarde-Tempel Loft zählt zu jenen Konzerten, bei denen Spätgeborene gerne dabei gewesen wären. Bevor die Einstürzenden Neubauten ihre Zementmischer anstöpseln, eröffnet Fad Gadget den Abend gewohnt krawallig, dehnt seinen Performance-Radius kurzerhand bis zur Decke aus, wo er nach einem Sprung den Lüftungsschacht zu fassen bekommt und Teile der lädierten Loft-Decke herunter reißt. Collapsing old buildings.
Drei Jahre zuvor nimmt die Karriere des Bühnen-Berserkers, der im echten Leben Frank Tovey heißt, mit diesem Album an Fahrt auf, einem so einflussreichen wie übersehenen Meisterstück der sich Ende der 70er Jahre aus dem Postpunk herausschälenden Synthiepop-Bewegung. Eine glückliche Fügung will es, dass der Kunststudent aus Leeds den jungen Londoner Daniel Miller kennen lernt, dessen Sägezahn-Spirale "Warm Leatherette" 1978 einen Wirbel in der Londoner Underground-Szene verursacht. Wie Miller sieht auch Tovey in den plötzlich erschwinglichen Fernost-Synthesizern den Fluchtweg heraus aus der Punk-Tristesse. Zudem ist ihm das prunkhafte Gebaren angesagter Synthie-Stars wie Spandau Ballet und Gary Numan zuwider - das spiegelt sich schon im Namen Fad Gadget, der ein Wegwerfprodukt symbolisiert.
Tovey liebt Geräusche und Hypnotik, er experimentiert mit Tape-Recordern, Bohrmaschinen oder auch Aschenbechern und holt damit als einer der ersten Electro-Künstler Industrial-Elemente in seinen Sound. Für Miller sind Toveys Demos der finale Kick, den Traum des eigenen Labels zu verwirklichen: "Back To Nature", heute ein Klassiker der First Wave Of Synthpop, wird die zweite Single auf Mute Records und die eigentliche Geburtsstunde eines der wegweisendsten Labels in Großbritannien. Das Fad Gadget-Debüt "Fireside Favourites" ist DIY at its best, radikal minimalistisch ausgesteuert, praktisch das Depeche Mode-Debüt "Speak And Spell" ohne die Lebensfreude, den Chorgesang und die Hits.
Der Uptempo-Start "Pedestrian" vermählt Toveys tiefgelegtes, nöliges Organ mit seiner Vorliebe für monotone Melodien und düstere Soundscapes. Danach wirds noch finsterer, "State Of The Nation" ist Throbbing Gristle light, ein funkelnder Zwei-Akkorde-Mahlstrom. Angesagte Topics wie Entfremdung, Philip K. Dick oder die dem Genre inhärente Roboter-Fixierung überlasst er anderen und nimmt in seinen Texten stattdessen Themen aus seiner unmittelbaren Umgebung, etwa die Automobil- und Technikverklärung kritisch unter die Lupe ("Pedestrian"). An anderer Stelle geißelt er Reality-TV, bevor es überhaupt existiert ("Newsreel") oder er beschreibt in seinem ikonischen Song "Lady Shave" im Telegrammstil die körperlichen Aufopferungen junger Frauen, um Style-Vorgaben von Modemagazinen gerecht zu werden.
"Lady Shave" erscheint 1981 nur als B-Seite, und möchte man an "Fireside Favourites" zwingend etwas kritisieren, dann das Fehlen der bereits 1979 veröffentlichten Killer-Singles "Back To Nature" und "Ricky's Hand". Andererseits haben das die Beatles ja auch nicht anders gemacht. Ohne die erfolgreichen Songs wirkt das Album noch eigenartiger, noch mehr wie eine Sammlung schräger, rhythmischer Synthie-Tracks, zu denen sich aber auch echtes Schlagzeug, Gitarre und Bass gesellen.
In "Salt Lake City Sunday" geht es erwartungsgemäß Mormonen an den Kragen, der Titeltrack dagegen ist ein Musterbeispiel seines schwarzen Humors: Fad Gadget kombiniert sexuelle Avancen am Kaminfeuer mit dem Fall einer Atombombe - zu schrillen Synths im Walzertakt ("Hey now, honey, open your eyes / there's a mushroom cloud up in the sky / your hair is falling out and your teeth are gone". Auch "Coitus Interruptus" beschreitet neue Wege: Der Unmenge an populären Songs, in denen Sex glorifiziert wird, fügt er eine weniger glorreiche Variante hinzu. Zum Ende hin grunzt und stöhnt er sich entsprechend in eine verzweifelte Ekstase. Hilflosigkeit kennzeichnet auch das sinistre "The Box" über klaustrophobische Situationen. "Let me out, let me out / I can't stand the dark anymore" sind Fad Gadgets letzte Worte auf dem Album, über das sich das instrumentale "Arch Of The Aorta" in geisterhafter Feierlichkeit erhebt.
Die akustischen Störfeuer begleiten ein surrealistisches, konfrontatives Bühnenkonzept, das der Pantomime-Liebhaber bis hin zur Ausleuchtung überwacht. Die Mischung aus Lindsay Kemp und Iggy Pop sucht bis heute ihresgleichen, Fad Gadget-Konzerte waren theatralische Happenings. Kein Wunder, dass Anton Corbijn sein Auge schon früh mit Auftragsarbeiten für Tovey schärfte. Berühmt wurde sein Stage-Act zu "Lady Shave", bei dem Tovey sich mit Unmengen an Rasierschaum einreibt, um sich anschließend Haare aus dem Intimbereich auszurupfen. Berühmt natürlich nur für eine überschaubare Anhängerzahl, die sich in den 80er Jahren noch streng in Subkulturen bewegten.
1984 gelingt Fad Gadget mit "Collapsing New People" sogar ein Charterfolg. Der Song, der unter Beteiligung der Neubauten in den Hansa Studios entsteht, nimmt den Verfallslook der Westberliner Jugendszene auf die Schippe und spielt mit der englischen Übersetzung des Bandnamens Einstürzende Neubauten. Legendär ist sein Auftritt in Peter Illmanns TV-Sendung "Formel Eins" im selben Jahr, wo er geteert und vollständig mit Federn bedeckt in den Bavaria-Kulissen auftritt. 1986 zieht er einen Schlussstrich und wechselt - umgekehrt wie lange vor ihm Bob Dylan - von der elektronischen hinüber zur akustischen Seite. Unter seinem Namen Frank Tovey spielt er Folkplatten ein. In den 90er Jahren verschwindet er von der Bildfläche.
Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob es Daft Punk, Marilyn Manson, Nine Inch Nails oder auch Depeche Mode in dieser Form ohne Fad Gadget gegeben hätte. Gefragt, ob ihn sein Status als Kultfigur rückblickend mit Stolz erfülle, fragte Tovey 2001 im Interview zurück: "Ist eine Kultfigur jemand, der nie viele Platten verkauft hat? Oder jemand, der nie viel Geld verdient hat?"
Doch die Geschichte des vergessenen Pioniers bekommt eine unerwartete Wendung. Depeche Mode, die 1980 bei ihrem Idol im Vorprogramm auftraten, revanchieren sich zwei Jahrzehnte später und laden Fad Gadget auf ihre "Exciter"-Tournee als Support ein. Tovey spielt die größten Shows seiner Karriere, eine Best Of-Scheibe kurbelt das wieder erwachte Interesse an seinen frühen Songs weiter an. 2002 will er ein neues Fad Gadget-Album aufnehmen, im April ist er tot. Der Musiker erliegt im Alter von nur 45 Jahren einem Herzinfarkt.
Seiner subversiven Bühnenshow blieb er auch bei den ungewohnten Gigs in den großen Stadien treu, bemerkte aber doch gewisse Unterschiede: "An der Stelle, wo ich mir die Schamhaare ausreiße, war das Publikum ziemlich geschockt. Ich glaube, viele Depeche Mode-Fans sind sehr straight und fanden das doch etwas krank."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare mit 2 Antworten
????
♥
Da kommen viele Erinnerungen hoch. Hab 2001 fad Gadget durch laut.de kennengelernt. Da lief dann die best of und exiter von Depesche Mode in Endlosschleife im 3 Fach CD Wechsler. Nebenher wurde auf einer dreamcast das Internet erkundet. Nach 18 Uhr versteht sich, da war es billiger.
♥
Tovey war auch ein extrem cooler Künstler. Ich vermisse seit langem Performances, die Gefahr ausstrahlen, daß jede Sekunde etwas schiefgehen kann, die Musiker spontan etwas Unanständiges machen usw.. Fad Gadget verkörpert das sehr. Die meisten Populärbands sind mir heute zu brav.
Selbst eine seichte Nummer kann mit Bühnenenergie geil sein:
https://youtu.be/eyGuUL-hAko