laut.de-Kritik
Die Lage der Nation in Blues-Songs.
Review von Simon ConradsBei der Biographie reiben sich Musikjournalisten die Hände, zementiert die Geschichte von Xavier Amin Dphrepaulezz doch mal wieder all die positiven Wirkungen, die man der Musik zuschreibt. Rehabilitation, Erlösung und Neuerfindung, für all das ist sie gut. Kurz abgerissen: Dphrepaulezz läuft im Alter von zwölf Jahren von Zuhause weg und wächst fortan bei Pflegefamilien auf. Er wird in das Straßenleben hineingezogen, erlebt Gewalt, Drogenmissbrauch, beginnt zu dealen. Im Jahr 2000 gerät er in einen Autounfall und fällt in ein Koma, kommt dem Tod nahe, aber überlebt und deutet das als zweite Chance.
Der Amerikaner mit somalischen Wurzeln distanziert sich von seinem früheren Ich, von Egoismus und Gewalt und wendet sich der Blues-Musik zu. Es dauert allerdings weitere 14 Jahre, bis er unter dem Namen Fantastic Negrito auftritt. Der Durchbruch lässt gar noch länger auf sich warten: erst 2015 als Gewinner von NPRs Tiny Desk Contest erfährt er Aufwind. Die darauf folgenden Alben "The Last Days Of Oakland" und "Please Don't Be Dead" gewinnen 2016 und 2019 den Grammy als 'Best Contemporary Blues Album'.
Mit der neuen Platte "Have You Lost Your Mind Yet?" legt er wieder einen Finger in die klaffende Wunde namens institutioneller Rassismus und Polizeigewalt. Diesmal erzählt er allerdings eher von individuellen Schicksalen, anstatt die Gesellschaft als Ganzes ins Visier zu nehmen. Im kurzen Skit "Justice In America" wird es dann aber doch mal allgemeiner: "In America there is justice / Only when you have money". Musikalisch bleibt Dhprepaulezz meistens in Blues-Gefilden, mischt seinen Songs aber auch Hip Hop-, Funk-, Soul- und Jazz-Elemente bei. Er selbst sieht sich als 'Black Roots Music'-Künstler, der die Musik weiterdenkt.
Am spannendsten wird es immer dann, wenn Fantastic Negrito seinen lässigen Blues-Rock entsprechend aufbricht. In "Searching For Captain Save A Hoe" beispielsweise lässt er den Rapper E-40 den Song kapern und mit launigem Hip Hop ausschmücken. Der Track bezieht sich auf den Song "Captain Save A Hoe" des Feature-Gastes und beschäftigt sich mit Geschlechterbildern: "They say a woman ate an apple from a tree / Temptation is a very, very beautiful thing / The conservative man living inside of me / Is trapped inside a cage and he wanna be free". Die Kombi von Blues-Rock und Rap erinnert an das Black-Keys-Projekt Blakroc. Die Tracks "I'm So Happy I Cry" oder "All Up In My Space" mit seiner Trap-Hi-Hat gehen in eine ähnliche Richtung. Erster ist eine Ode an das Leben. Der Musiker ist dankbar dafür, seine Süchte überwunden zu haben: "I caught the devil in disguise / Still deep dished her in her pie / All them things that made me high / Now make me sit and wonder why?".
Häufig bleibt die Musik aber doch sehr geradliniger Blues-Rock, wie ihn auch Gary Clark Jr. liefert. Das gelingt Fantastic Negrito mal bestens, wie im sehr launigen, nach vorne drängenden Opener "Chocolate Samurai" oder dem von Funk durchzogenen "Platypus Dipster". An anderer Stelle geraten die Songs aber auch mal zu lang, etwa "Your Sex Is Overrated", oder mäandern wie "King Frustration" ohne Höhepunkte dahin. Verkraftbar ist das, weil die Platte daneben so starke Stücke wie "How Long" bietet. Einem groovenden, melancholischen Stück, das sich mit dem Hintergrund von Gewalt beschäftigt und ein fesselndes Riff bietet. "To all my baby Al Capones / Out there screaming all alone / Full of shit, full of hope, holding on / We can repeat the same old lies", singt Dphrepaulezz mit seiner mächtigen Stimme.
Ähnlich stark klingt "These Are My Friends" mit sehr eingängigem Background-Gesang im Refrain. Das Stück beschäftigt sich mit Einsamkeit und entwickelt einen angenehmen Sog: "Sometimes it’s hard to get along with everyone / Because the hardest thing in life / Is to find a good friend". So geht es häufig um die psychischen Probleme der heutigen Gesellschaft, die dazu führen, dass Menschen sich als Außenseiter fühlen und zu drastischen Maßnahmen greifen. Darauf spielt auch der Albumtitel an: Bist du auch schon verrückt geworden, in dieser Welt, in der das gar nicht schwer ist? Dphrepaulezz hat erlebt, wie schnell man in die Kriminalität rutscht, weiß, wie Gewalt entsteht, aber auch, dass man sein Leben wieder rumreißen kann. Seine Geschichten erzählt er in smoothen Songs, mit eingängigen Hooks und in stilistischer Vielfalt.
4 Kommentare mit 5 Antworten
Ich bin gespannt ob eurer inflationären 4Sterne Wertungen. Das letzte Negrito Ding hatte 2 gute Tracks und viel Ödnis.
Bei laut.de wird vor allem die Hintergrundgeschichte eines Künstlers bewertet. Was interessierste Dich überhaupt für die Musik? Biste n Snob oder was?
Es gab aber auch mal Zeiten, in denen man sich fast blind auf Laut.de verlassen konnte. Ist allerdings 15 Jahre her. Ein Teil von mir will das nicht wahrhaben
Ja, lang ists her, daß ich mal wirklich geflasht wurde von einer Platte auf laut.de, nachdem eine Albenrezension fünf, vier oder sogar nur drei Sterne vergab. Heute passiert mir das nur noch auf anderen Plattformen oder wenn der geschmackvolle Teil des Bekanntenkreises was empfiehlt.
Schade, daß von den Verantwortlichen kaum einer mehr wirklich was auf die Rezensionen gibt. Es geht eher darum, die clickbaitigsten Artikel und Nachrichten zu verfassen.
Meine letzte gute laut.de Empfehlung war "Hybrid Theory". Das ist so lange her, ich weiß nicht mal mehr welche Band das gewesen ist. Ich glaube Coldplay oder Oasis. Ich müsste mal meine erste Freundin fragen
Die ist, glaube ich, von Georg Friedrich Händel!
Im Ernst und zugegeben: ich bin dem Schwinger auch für den Another Sky-Hinweis dankbar. Hör ich seitdem dem jeden Tag.
Nein.
Sehr spezielle Stimme. Haut mich aber auch musikalisch (wie schon die Vorgängeralben) nicht um.