laut.de-Kritik

Live-Leckerbissen mit Maskenpflicht.

Review von

Im Konzert entfaltet die Supergroup Flying Colors um Mike Portnoy, Steve und Neal Morse ihre verschiedenen Potenziale am besten, so auch auf "Third Stage: Live In London". Um die beiden Morses rankt sich der Witz, dass Steve Morse erst von Neals Band Spock's Beard erfahren habe, als man ihn in Interviews wiederholt auf seinen angeblichen Bruder ansprach. Nun, die beiden sind mitnichten verwandt, und für alle Bandmitglieder sind die Flying Colors ein Nebenjob. Sie scheinen dabei eine wichtige Rolle für die Stabilisierung von Steves Verhältnis zu Deep Purple einzunehmen: Eein kreativer Ausflug aus dem inzwischen recht keyboardlastigen Abmischungsverfahren beim Hauptbrötchengeber.

Im Nebenprojekt demonstriert Morse in drahtigen Dramaturgien, was er aus seiner Elektrischen alles rauszaubern kann, und klampft sich in den Mittelpunkt. Das Ergebnis klingt im Studio teils spröde und verkopft, während es live fleischlicher, explosiver herüberkommt und nach wenigen Takten vom Hocker reißt.

Drei Studioalben der fliegenden Farben gibt es. Zu jeder gibt es eine Live-Pendant-Platte. "Third Stage: Live In London" folgt auf "Third Degree". Stücke der ersten beiden Alben sind selbstredend ins Set eingebunden. Einige erweisen sich als wirklich gute Evergreens. Dieses Mal ergänzt nun eine Blu-ray oder DVD die Höreindrücke in einem Box-Set, alternativ gibt es nur die Blu-ray oder drei Vinylscheiben.

So oder so, die 110 Minuten Audio-Spielzeit sind prall an Impulsen, entspannenden Jazzrock-Einlagen (, "Geronimo", "Cosmic Symphony", Mittel-Solo "Infinite Fire", Intro von "Blue Ocean"), einer Prise heimeligen Folk-Rocks in "Peaceful Harbor", Orgel-Hardrock ("A Place In Your World") und Dissonanzen-Prog ("The Loss Inside"). Dazu gesellen sich elegische Goth Metal-Anklänge ("More"), eine Akustikballade vom Feinsten ("You Are Not Alone") und straighter Rock'n'Roll mit Snare Drum-Gewitter ("The Storm"). Stilgrenzen fühlt man kaum, vieles ist erlaubt.

Kerngeschäft der Gruppe sind überlange Monster-Tracks (z.B. "Infinite Fire"), die sogar Prog-Verhältnisse sprengen und weniger technisch klingen als bei Simeon Soul Charger und Konsorten. Die Flying Colors führen den Beweis, wie eingängig monumentaler Progressive Rock geraten kann, wenn die Melodien unwiderstehlich sind, so in "Crawl". Aus "Love Letter" (2019) entspinnt sich ein erfrischend lockerer Novelty-Pop mit viel Starkstrom. Die Vocals sind als Doo-Wop und stellenweise Acapella arrangiert. Somit präsentieren sich die Flying Colors als eine Art Electric Light Orchestra der 2020er.

Zu den Höhepunkten zählen, wenn das Publikum ins schwelgerische "Kayla" mit einstimmt und zwei Zeilen übernimmt, aber auch die allgemein melancholische Grundstimmung, mit der die Flying Colors ein erkleckliches Maß näher rücken als bei den meisten Studio Recordings. Auch verbinden sie die recht verschiedenartigen Tracks äußerst geschickt zu spannender Unterhaltung, die bestens einwickelt.

Über die Lead Vocals von Casey McPherson lässt sich trefflich streiten, in manchen Nummern, in denen gerade viel auf seinen Gesang zugeschnitten ist (z.B. "You Are Not Alone") stellt seine in den Höhenlagen allzu bemühte Intonation nicht zufrieden. Akzeptabel ist er sicher - fairerweise muss man sagen, er hat nicht den einfachsten Job. Die unterschiedlichen Rhythmen, Richtungen und Tempi darzustellen, ist anspruchsvoll. Alle Bandmitglieder komponieren ihren Senf mit hinzu, manches müsste man Casey erst auf den Leib komponieren, manchmal brilliert aber auch er ganz erstklassig, wie im Ohrwurm "Love Letter" und im feuerwerksartigen "Infinite Fire".

Das Tracklisting variiert leicht je nach Medium, auch wenn überall alle Tracks enthalten sind. Mit "Mask Machine" hat sich die Band für den Schluss dem Thema Masken gewidmet. Das Lied ist ein Pflichttitel aus den Anfangstagen der Band, kein aktueller Kommentar, wie auch insgesamt alles hier zeitlose Qualität ausstrahlt.

Trackliste

CD1

  1. 1. Blue Ocean
  2. 2. A Place In Your World
  3. 3. The Loss Inside
  4. 4. More
  5. 5. Kayla
  6. 6. Geronimo
  7. 7. You Are Not Alone
  8. 8. Forever In A Daze
  9. 9. Love Letter

CD2

  1. 1. Peaceful Harbor
  2. 2. Crawl
  3. 3. Infinite Fire
  4. 4. Cosmic Symphony
  5. 5. The Storm
  6. 6. Mask Machine

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LAUT.DE-PORTRÄT Flying Colors

Flying Colors sind eine Supergroup, die sich nicht aus dem eigenen Antrieb der Musiker formt. Bill Evans ist Produzent, Freak und Liebhaber neuer Stereo-Technologien.

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