laut.de-Kritik
Außen Kontrolle, innen Theatralik.
Review von Jan HassenpflugMit City & Colour macht Dallas Green seit 20 Jahren vor, wie sich der Überschuss an künstlerischer Vision neben dem Engagement als singender Gitarrist einer Post Hardcore-Band solo ausleben lässt. Feingeister dieses Formats haben eben viel zu sagen oder, besser gesagt, viel zu besingen. Leisere Töne vertiefen das besonders gut. Jesse Cash wiederum trägt die Metalcore-Band Erra federführend auf seinen Schultern: gesanglich, instrumental und vor allem schöpferisch. Ghost Atlas nennt sich sein ausgleichendes Soloprojekt dazu.
Der Vergleich zum weichen Folk à la City & Colour drängt sich trotzdem nur bedingt auf. Während Green mit Akustikklampfe und ein wenig Hall vermutlich auf jedem Marktplatz der Welt Wirkung entfalten könnte, entzieht sich Cash einem derart minimalistischen Setting. Auch weil er sich nur allzu gerne an der E-Gitarre austobt, berücksichtigen die Arrangements sehr viel ganzheitliche verzerrte Sounds, Schlagzeug oder Synthies. So entstehen ganz unterschiedliche Dynamiken, die nicht unbedingt nahelegen, "Dust Of The Human Shape" in die Singer/Songwriter-Schublade zu stecken. Mal klingt es nach Band, mal nach Solo-Künstler.
Genau diese Bandbreite erweist sich in Kombination mit den instrumentalen Fertigkeiten, dem Gespür für Harmonien, Stimmung und Lyrics als treibende Kraft einer spannenden Platte. Natürlich kommt die nicht ohne Melancholie aus. Überhaupt gerät sie deutlich poppiger als das Debüt 2017. 80er-Keyboard-Sounds und sehnsüchtige Melodien schaffen den Rahmen, um sich in "Seeker (Stretch The Night)" gedankenverloren auf die Reise zu mehr Selbstliebe zu begeben. Das Intro klingt groß, mehr nach Coldplay denn nach schüchternem Nebenprojekt.
Als würde man aus der erwachsenen Sicht reflektiert auf sein verlorenes Teenager-Ich zurückblicken, lässt der Track den Emo gewähren. Irrationale Gedanken und Gefühle gehören dazu, wachsen aber, stilvoll verpackt, zu einem wohligen Schmerz heran. "I love this song cause you used to hate it, the part about you is my favorite, volume loud cause I've got thoughts to drown." Theatralik im Inneren, außen die Kontrolle über alle musikalischen Elemente. Fühlt sich nach Freiheit an.
Einzig die Ballade "Tomato Red" reizt die nachdenkliche Atmosphäre noch weiter aus. Ansonsten wäre es zu kurz gegriffen, "The Dust Of Human Shape" auf wehmütige Schwingungen zu reduzieren. Im Opener "Void Voyeur" oder dem folgenden "Panorama Daydream" wirken ganz unterschiedliche Kräfte zusammen. Beide Male beginnt alles mit einer verträumten Gitarrenfigur, die sich wie eine warme Umarmung anschmiegt. Dazu macht es sich Cash stimmlich zunächst in tieferen Lagen gemütlich, ehe er die Intensität in Richtung Chorus erhöht. Seine Range macht es möglich, dem Spannungsbogen jederzeit eine Pointe mitzugeben.
Während die sich in "Void Voyeur" durchaus druckvoll und wütend aus der Lethargie herauslöst, verharrt "Panorama Daydream" in einer beschwingten Leichtigkeit. Besonders auffällig orientieren sich die Vocals eng an den prägenden Gitarrenmelodien. Beides verschwimmt im homogenen Zusammenspiel. Jetzt bloß nicht im Midtempo versacken!
Energieschübe, die sich zuvor allenfalls anbahnen, bekommen mit "Lesser Gods" erstmals freie Hand. Alle Facetten zusammengepackt, sucht die erste Vorab-Single zumindest konsequent den Weg nach vorne. Das Schlagzeug schiebt an, die Hooks setzen sich hitverdächtig fest, und dann bekommen wir noch ein Solo zum Niederknien hinterhergeschmissen. Ziemlich simpel, aber namhafte Bands aus Rock und Pop versuchen vergebens, genau diesen Song zu schreiben.
Aus einer leichten Post Hardcore-Brise, die zum Beispiel auch "Riding The Blindside" umweht, erwächst in "In The House Of Leaves" mindestens ein Windstoß. Der wildeste Auszug liefert mit flirrenden Gitarreninterludes und jeder Menge Punch den Beleg dafür, dass sich Ghost Atlas wie selbstverständlich auch abseits seichter Gefilde wohlfühlt. Die hohen Vocals unterstreichen in all ihrer Vehemenz Assoziationen zu Underoath oder Saosin.
Tagträumereien und Druck verbinden sich in "Polyphonic Mind" oder "Bedsheet Tourniquet" zu einer hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung. Vielleicht liegt in eben dieser der kleinste gemeinsame Nenner des gesamten Projekts begründet. Sie überwiegt alle Melancholie.
Was trotz manch redundantem Refrain und einigen austauschbaren Füllern besonders viel Spaß macht: Bei jedem Hördurchlauf gibt es Neues zu entdecken. Ghost Atlas lebt von kleinen Kniffen im Songwriting, von einem unverschämt talentierten Musiker und, nicht zuletzt, spürbar von der Sehnsucht, sich auszudrücken. Die schwingt mit, in jedem Akkord, in jeder Zeile.
1 Kommentar
Danke laut.de, dass ihr mir diese Band auf den Radar gebracht habt. Album gefällt mir sehr gut!