laut.de-Kritik
Schießt alle White-Power-Penner und Suffpunks in die eigene Armseligkeit.
Review von Stefan JohannesbergZerknittert und 17 Jahre später immer noch nach schalem Oberstufenparty-Hopfentropfen stinkend vegetierte die '94er CD-Pressung des Gorilla Biscuits-Debüts "Start Today" seit dem letzten Umzug in meinem Kellerregal vor sich hin – nebst Schätzen wie einer signierten Udo Jürgens-CD, der ersten Vinyl-Pressung von Tomtes "Blinkmuffel" und diversen Szene-Nachbarn von Charley's War bis hin zu Sick Of It All.
Ein Flashback später warfen sich schützende Hände auf jenes erste Immer-Schon-Klassiker-Album (und auf das Live-Werk letztgenannter New York-Truppe) und trugen es im rohen Soja-Eier-Style die Treppe hinauf. Zum Laptop. In Sicherheit.
Schon beim ersten "New Direction"-Akkord ballten sich sofort jene mittlerweile zitternden Hände zu Fäusten, der Körper straffte sich und eine innere Stimme betete drei Hare Krishnas (wird wohl am ehesten erhört) und fünf "Beware Of Hardcore Pride" zum Straight Edge-Gott - um Vergebung bittend für die jahrelange Ignoranz.
Sänger Anthony "CIV" Civarelli und Gitarrist Walter Schreifels pusten und spucken auf den 14 Songs als treibende Kräfte einen Happy Hardcore-Schwall nach dem anderen durch die Speaker, der bis heute alle ignorant-negativen Szene-Kollegen, White-Power-Penner, orientierungslosen Punks und die Spießer aller Länder gleichermaßen in die eigene Armseligkeit schießt. Härter als Bad Religion, melodiöser als Youth Of Today, raffinierter als Sick Of It All und druckvoller als jedes Biohazard-Macho-Riff fliegen die Biscuits selbst Speed Metal-Schrubbern davon. Emo-Core ohne Trauerflor.
Wer schon mal mit Ryker's-Longsleeve, Bad Religion-Shirt und Tarnhose durch eine deutsche Vorstadt spazierte, in Vorgärten geschlafen oder sich eben auf Abipartys ganz ohne Drug-Free-Attitüde das Albumcover eingesaut hat, findet allein im zweiten Track "Stand Still" Hoffnung und Stärke für zwei weitere Leben in Schreberbeeten. "I'm holding out for a better deal, for something real" singt, schreit und spricht CIV über die Mosh-Core artigen Gitarrengrooves vom späteren Quicksand-Chef Schreifels und fegt im folgenden 1:35 Minuten kurzen "Degradation" nebenbei alle rassistischen Tendenzen von SE-Kollegen wie One Life Crew oder Hatecorlern wie Billy Milano (M.O.D., Pro Pain) vom fleischfreien Mittagstisch.
"Don't fool yourself cause you don't fool me / It's not just blacks you hate, it's everyone you see / Rich, poor, young and old, whoever's in your way / What a boring life, hating every day."
Doch Zeit zum Luftholen bleibt auch nach der tödlichen Dreierlinie zu Beginn kaum. "Good Intentions" sprintet mit Shouts und Speed in einer halben Minute szenetypisch wie Carl Lewis (oder Usain Bolt, für die Jüngeren) durch den Song, während "Forgotten" und "Start Today" einmal mehr mit Walters metallischen, melodiös-aufbrechenden Gitarrenparts für Begeisterung im Circle Pit sorgen.
Zusammen mit der DIY-Attitüde berühren sich hier Ende der 80er die Kerne von Hardcore und Hip Hop als kreative, aufbauende und erfolgreiche Gegenbewegung zu Mainstream, Suffpunks und Gesellschaft. "There's no justice, there's just us."
Rechtschaffenheit und Respekt als Leitfäden in einer rassistischen und gewalttätigen Welt - all das transportiert "Start Today" heute noch und markiert auch dank 100.000 verkaufter Alben rückblickend einen Wendepunkt der damals bereits über zehnjährigen Szene.
Sie wurde größer und zerfaserte in verschiedenste Bewegungen, mal mehr, mal weniger idealistisch, und findet sich heutzutage bruchstückhaft in unzähligen Musikgenres und Subkulturen. Auch das per Internet ausgerufene Zeitalter von globaler Transparenz zeigt, dass die Hardcore-Idee der Wahrhaftigkeit wahrhaftig war. "Keep it real, keep it one-hundred! Let's start today!"
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare
Jaaaaaaa dit Ding ist ein Vorreiter seiner Zeit...schöne Rezi auch
Jaaaaaaa dit Ding ist ein Vorreiter seiner Zeit...was für ein Brett und leider sehr oft vergessen. Danke daher für die schöne Rezi an den Autor
Hardcore langweilt mich eigentlich... lohnt sich reinhören trozdem?
Nur ohne Vorurteile lohnt sich das
Endlich kommt hier mal Leben in die Bude.
Das Debüt ist mindestens genauso geil, aber der Meilenstein geht absolut klar. Ich kann mich heute noch gut erinnern, als mir ein Schulfreund so Anfang-MItte der 1990-er 'ne Kopie in die Hand drückte, und ich als kleiner 7.-oder 8.-Klässler sowas von geflasht wurde. X-Mal intensiver als Nirvana, Soundgarden o.Ä "elaborierte" Bands.
Bad Religion konnten dabei vielleicht noch mithalten.
Die Band hat es geschafft, dem Hardcore Seele (read: Soul) und Melodie einzuhauchen, von denen viele Gruppen im Folgenden sehr profitiert haben.