laut.de-Kritik
DER Klassiker des DIY-Lo-Fi.
Review von Hannes Huß1994 war ein wahrlich extraordinäres Jahr für den Alternative Rock. Nirvana setzen mit "MTV Unplugged In New York" ein letztes Ausrufezeichen, Pavement veröffentlichten mit "Crooked Rain Crooked Rain" eines der besten Indie-Rock-Alben aller Zeiten, Oasis verkauften "Definitely Maybe" millionenfach, Blur brachten Großbritannien in "Parklife" auf den Punkt und Weezer stürmten mit dem blauen Album und ihrem popsensibilisierten College-Rock in die Herzen von Musikkritiker*innen, Radiosendern und der breiten Öffentlichkeit.
Von solcher Aufmerksamkeit konnten Robert Pollard und seine kleine Band Guided By Voices nur träumen. Obwohl ihre Diskografie schon acht Alben umfasste, glaubte niemand mehr an den großen Durchbruch. Pollack war Mittelschullehrer und passionierter Biertrinker, umgeben von einer Gruppe Amateure, die sich mit Tape-Recorder in die Garage stellten und ein paar seiner Songs einspielten. Geld wollte man keines investieren, der Spaß an der Freude stand im Vordergrund.
Doch mit "Bee Thousand" passierte etwas Unerwartetes: Es wurde zum kleinen Hit. Die hundsmiserabel aufgenommenen Songs trafen den Nerv ihrer Zeit und lieferten der Musiknerd-Fraktion der Slackerszene ihre Helden. Während Pavement bei aller Abscheu gegenüber Konventionen "Crooked Rain Crooked Rain" musikalisch bis ins kleinste Detail durchdachten, ist "Bee Thousand" eine Collage aus anderthalbminütigen Fragmenten. Die Texte vergraben ihre Aussage unter Écriture automatique-ähnlicher Herangehensweise, auffindbar nur für die wirklich Geduldigen.
Dabei springen GBV mühelos zwischen der heiligen Vierfaltigkeit aus Pop, Punk, Psychadelic und Progressive Rock hin und her und legen noch ordentlich Country-Seligkeit, Kinder-Ringelreihen und Indie-Rock-Excellence obendrauf. Nichts passt wirklich zusammen, mit dem Arsch reißen sie ihre handgebauten Sandburgen wieder ein, aber am Ende ist alles genial.
Dass die Songs nicht zueinander passen, hat einen ganz simplen Grund: "Bee Thousand" wurde nicht in einer Einheit aufgenommen. Vielmehr handelt es sich um eine Compilation aus ungenutzten alten Songs, neu "bearbeiteten" alten Songs und ein paar neu geschriebenen Stücken. Die Aufnahmequalität ist dabei mal mehr (auf den alten Stücken), mal weniger professionell (die neuen Stücke), und ganz zum Schluss auf "You're Not An Airplane" ist ganz deutlich das Ausschalten des Four-Tracks-Recorders zu hören.
Doch wer solche Songs schreibt, braucht keine guten Bedingungen. Vor allem mit dem eigens für "B1000" Geschriebenen liefern Pollard und Manchmal-Co-Songwriter Tobin Sprout Material für die Ewigkeit. "Gold Star For Robot Boy" vereint Classic Rock und Lebensweisheiten von Pollards Viertklässlern zu einem scheinbar dadaistischen Brei. Doch unter der Oberfläche schlummert Pollards Selbstreflexion über seinen monotonen Arbeitsalltag als 46-jähriger Lehrer, der doch nur Rockstar sein möchte. Er kann doch so schön Robert Plant imitieren. Der titelgebende Roboter steht für Robert, der eine selbstgebastelte Medaille für sein mediokeres Leben erhält. Die Band soll auch bald Geschichte sein, noch ein paar Songs auf "Bee Thousand" packen, aufgenommen nach Feierabend, und dann ist aber mal wirklich Schluss. In Dayton, Ohio wird man nicht zum Rockstar.
Außer man schreibt "I Am A Scientist" und beleidigt mal so im Vorbeislacken ungefähr jede respektable Berufsgruppe. Das Ganze dann mit einer einigermaßen klassischen Songstruktur paaren, die eigene glasklare Stimme auspacken, Drums und Bass auf trockene Dauerschleife stellen und mit der Gitarre nur ganz vorsichtig reinpieksen.
"I Am A Scientist" ist einer dieser ganz seltenen Songs, die mehr als die Summe ihrer Einzelteile sind. Pollard und Kompanie wachsen Flügel, jede Zeile scheint besser als ihre Vorgängerin, der Bass brennt sich in jedes Gehirn dieser Welt, und endlich erfahren wir, wer Robert Pollard ist: "I am a lost soul / I shoot myself in Rock'n'Roll / the hole I dig is bottomless / and nothing else can set me free."
Diesen Rock'n'Roll sucht und findet er das gesamte Album über in den seltsamsten Winkeln. "Buzzards And Dreadful Crows" bietet einen der verschlungensten Singalongs aller Zeiten. "Buzzards and dreadful crows / a necessary evil I suppose / There's something in this deal for everyone / did you really think that you were the only one?" Der Song und vor allem die Drums steigern sich auf anderthalb Minuten in ungeahnte Höhen, während Pollard zwischen aufgekratzter Melancholie, Abgebrühtheit und Überschwang oszilliert.
Der Rock'n'Roll steckt auch im Punk von "Her Psychology Today". Stark beeinflusst von klassisch-britischem Punk Marke The Clash, setzt die Band hier drei Tapes zu einem Song zusammen. Dabei gehen die ersten beiden Abschnitte ganz klar als Punk durch, während der dritte in seltsame Gefilde entführt. Eine Sitar-Imitation übernimmt die Hauptrolle, während Pollard uns versichert: "Things could get much better."
Auch im Opener "Hardcore UFO's" spielt das Aufnahmegerät eine gewichtige Rolle. Tobin Sprout hat dessen Bedienung vermasselt und die Hälfte der Aufnahme überspielt. Ja, richtig gelesen. "Hardcore UFO's" beginnt unmittelbar, man hört das Knacken des Recorders, und sofort legen GBV los. "Sitting on your house / watching hardcore UFO's / drawing pictures, playing solos til ten." Was diese Hardcore-UFOs sind? Wer weiß das schon? Und wen interessiert es überhaupt? Alles, was zählt, ist die Catchiness. Schon nach einem Durchgang gehen die Zeilen kaum noch aus den Gehörgängen.
Noch kryptischer wird es in "Kicker Of Elves". Nur eine Minute lang, vergleichsweise gut produziert und absolut sinnentleert. Bloß eine schunkelnde Gitarre und spärliche Drums leisten Pollard Gesellschaft, während er Elfen zusammentreten möchte. Aber wieder einmal, die Catchiness ist da. "Dee dee dee dee dee dee dee kicker of elves."
"Bee Thousand" quillt über vor lauter Mini-Ohrwürmern. Refrains kommen hier nicht vor, stattdessen felleln kurze One-Liner wie "Down and out / couldn't bear to shout it out" ("Ester's Day") die Zuhörer*innen, lassen sie rätseln oder mitsingen.
Robert Pollard und Guided By Voices gelang mit "Bee Thousand" DER Klassiker des DIY-Lo-Fi. Ohne jegliche Ambitionen, ohne jeglichen Aufwand, ohne jeglichen Druck spielten ein paar Mittelstand-Dads etliche Songs ein. Nichts daran wies auf länger anhaltenden Erfolg hin. Doch Robert Pollard war und ist ein Genie. Keine Produktion ist zu schlecht, um seine Songs verstecken zu können. "Buzzards And Dreadful Crows" könnte aus einem Kilometer Entfernung mit Laptop-Mikrofon aufgenommen werden, am Ende wäre es trotzdem ein Hit.
Deshalb gibt es Guided By Voices bis heute. "Bee Thousand" öffnete doch noch die Tür zum Rockstartum. Konzerte der in stetig wechselnder Besetzung spielenden Band arten regelmäßig zu kultähnlichen Veranstaltungen um Messias Robert Pollard aus. Der weiß, was seine Jünger*innen wollen: mehr Musik. 2017 veröffentlichte er sein 100. Album "August By Cake" und zeigt keine Anzeichen, seine Suche nach dem Rock'n'Roll beenden zu wollen. Zum Glück nicht.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar mit 3 Antworten
Album für ehemalige Sportlehrerstudenten, die bei der ersten Hürde im Leben entschieden, ich bin nicht gut in Sport und werde nun Praktikant bei Laut!
Prima Kommentar! Da kann ich mir ja meine Ausführungen sparen, nachdem ich mich durch dieses Album gequält habe. Bin eben kein ehemaliger Sportlehrerstudent.
Sportlehramtstudierende und Praktikant*in/*innen.
Klingt unironisch wie etwas für mich. Nur dass ich schon vorm Studium wusste dass ich kacke in Sport bin.