laut.de-Kritik

Im Hause Styles ist niemand fehl am Platz.

Review von

Harry Styles ist ein Phänomen. Ein Normbrecher und Meister der authentischen Selbstinszenierung. Denn wenn man den riesigen Komsos der Mainstream-Popwelt betrachtet, dann ist es kein Geheimnis, dass der Großteil dieser musikalischen Welt gerne dazu neigt, unterdurchschnittliche, uninspirierte und wenig innovative Musik hervorzubringen. Doch obwohl Harry fester Bestandteil dieser Welt ist, gelingt es ihm wie kaum einem Zweiten, scheinbar regelmäßig aus dieser Oberflächlichkeit auszubrechen und sie im Rahmen seiner Arbeit glaubhaft vergessen zu lassen.

Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass der Schein auch trügen kann. Sowohl auf seinem selbstbetitelten Solo-Debüt als auch auf "Fine Line" lebten neben großartigen Momenten eben auch genau diese ernüchternden, an recycelte Popstars und dunkle One Direction-Zeiten erinnernde Momente. Nur sind Harry und seine Aura so extra, so anders, so mysteriös, so künstlerisch elaboriert, dass man nach einiger Zeit immer wieder aufs Neue der Illusion verfallen kann, er sei nicht Teil dieser Welt.

Dann kam jedoch "As It Was" und die Illusion brach erneut in sich zusammen. Der zeitweise künstlerisch ungreifbar wirkende Brite war plötzlich wieder Teil des industriellen Durchschnittspop-Fabrikats. Mit dem einzigen offiziellen Single-Release vor seinem dritten Album "Harry's House" präsentierte er zwar eine bittersüße, herzzerreißende Geschichte über Einsamkeit und die Nostalgie vergangener Liebe, das musikalische Gewand des Tracks war jedoch im Vergleich dazu eine große Enttäuschung. Eine ernüchternde, kaum abwechslungsreiche Songstruktur, genauso wie das weitestgehende Fehlen einer instrumentellen Richtung oder Identität, nahmen dem inzwischen zum Hit gewachsenen Song fast jeglichen Zauber.

Einige Wochen später, mit neuer realistischer Vorstellung und ungeblendet von jeglichem Hype, öffnete "Harry's House" nun all seine Türen und es war Zeit einzutreten, nachdem es zuvor nur einen kleinen Blick durch das Fenster gab. Und was soll man sagen? Wenn "As It Was" der Gatekeeper war, der das Durchhaltevermögen, die Vorfreude und das Verlangen nach dem dritten Solo-Werk des Briten auf die Proben stellen wollte, dann hat es sich allemal gelohnt, diesen Kampf anzutreten und durchzuhalten.

Denn wie sich herausstellt, ist "Harry's House" ohne Zweifel sein bisher ambitioniertester, kohärentester, aber gleichzeitig auch persönlichster, intimster und trotzdem verspieltester Output. Letzteres bewahrheitet sich dabei bereits nach wenigen Sekunden. "Green eyes, fried rice / I could cook an egg on you" lautet Harrys Willkommensbotschaft auf "Music For A Sushi Restaurant", während eine mitreißende Bass-Line, gigantische Toms, euphorische Bläser und himmlische Vocal-Harmonien seinen persönlichen Space nach und nach mit reichlich Unbekümmertheit und Tanzatmosphäre füllen.

Einfühlsamer, aber nicht weniger funky, zeigt sich Harry im Anschluss auf "Late Night Talking". Besonders die viel präsenteren Vocals transportieren die emphatische, aber gleichzeitig auch etwas melancholische Botschaft direkt in die Seele, wohingegen das Instrumental einmal mehr verhindert, dass man auch nur eine Sekunde ohne Kopfnicken und Mitwippen auskommt. Außerdem braucht "Harry's House" natürlich auch ein atmosphärisches "Cinema", in dem Disco-Drums, Funk-Gitarren, eine bouncende Bass-Line und viele kleine Soundschnipsel lauthals ertönen und gefühlt jeder dritte Satz mit einer sexuelle Anspielung daher kommt. Zwar wird gerade Letzteres im Laufe der Zeit etwas eintönig, der Groove überzeugt jedoch ungemein.

Auch wenn "Harry's House" immer wieder Spaß macht, beinhaltet es ebenfalls die so wichtigen Bestandteile, die es von einer eindimensionalen Pop-Platte auf die nächste künstlerische Ebene heben. Zwischen den leichten Momenten sprießen immer wieder auch viel tiefere Eindrücke, die einem Haus, sei es im wörtlichen oder metaphorischen Sinne, in der realen Welt oder im eigenen Kopf, seinen Charakter verleihen. "Matilda", "Little Freak", "Boyfriends", "Satellite" und "Daylight" offenbaren die persönlichen Spuren, die sich zeigen, wenn ein Raum bewohnt wird. Wenn die Party zu Ende ist und die Euphorie langsam wieder davonzieht, die Girlanden und Ballons langsam abgehängt werden, die Fassade verschwindet und man erstmals bewusst staubige Stellen, abblätternde Farbe, kleine Risse, schiefe Bilder und eingehende Pflanzen entdeckt.

Besonders "Matilda", in Anlehnung an den Titel des gleichnamigen Buches von Roald Dahl, sorgt dabei für eine emotionale Verwüstung. In der Geschichte über zerrüttete Familienverhältnisse und die Bedeutung eines Zuhauses, bei der sich Harry nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern als gefühlvoller Beobachter und Ratgeber fungiert, geht zu jeder Sekunde unter die Haut. Untermalt von einer rohen, schludrig gespielten Akustikgitarre, einer zerreißenden Piano-Bridge und abermals atemberaubenden Harmonien, greifen alle Bestandteile des Songs perfekt ineinander. Noch deutlicher als an irgendeiner anderen Stelle betont Harry zudem den Leitsatz des gesamten Albums: Ein Zuhause ist oftmals vielmehr etwas Immaterielles, als dass es ein Ort wäre.

Nichtsdestotrotz ist "Harry's House" an anderen Stellen gewiss nicht immer perfekt. "Grapejuice", nach "Watermelon Sugar", "Cherry" und "Kiwi" der nächste Teil der Obst-Saga, versinkt auch mit schillerndem Piano und erwartungsgemäß erstklassiger Gesangseinlage zwischen dem ekstatischen Beginn der Platte und den emotional aufgeladenen Mittelteil. Auch der Closer "Love Of My Life" ist wegen seines unaufgeregten Arrangements im musikalischen Kontext der Platte zwar eine logische Wahl, mit Gedanken an das grandiose Finale auf "Fine Line" entpuppt es sich trotzdem als kleine Enttäuschung. Dennoch sind selbst diese ohnehin nur kleinen Dämpfer auf einem deutlich höheren Niveau als der Ballast-Anteil, der sich auf seinen vorherigen Alben befand.

Auf "Harry's House" hat Harry im dritten Anlauf nun endlich vollkommen als Solo-Künstler zu sich gefunden. Nicht, weil er eine makellose und höchst anspruchsvolle Songkollektion kreiert hat, sondern weil es wirkt, als wäre er musikalisch, künstlerisch und menschlich genau da, wo er sein will. Es gibt die großen, euphorischen Crowd-Pleaser, ohne die jedes gute Pop-Album nicht existieren und überdauern könnte, aber es finden sich eben genauso äußerst intime, verletzliche und nachdenkliche Passagen, die auf einem Album mit einem immensen Mainstream-Anspruch zumindest in derart authentischer Form nicht häufig vorkommen. Oder um bei der Haus-Metapher zu bleiben: "Harry's House" ist ein einladender Wohlfühlort, der vor Freude, Farbe und Stimmung strotzt, aber ebenso auch stolz und selbstbewusst seine Kanten, Mängel und Imperfektionen präsentiert. Und Harry ist inmitten dessen der Architekt, dessen Kunst gerade dadurch scheint, dass er einfach er selbst ist.

Trackliste

  1. 1. Music For A Sushi Restaurant
  2. 2. Late Night Talking
  3. 3. Grapejuice
  4. 4. As It Was
  5. 5. Daylight
  6. 6. Little Freak
  7. 7. Matilda
  8. 8. Cinema
  9. 9. Daydreaming
  10. 10. Keep Driving
  11. 11. Satellite
  12. 12. Boyfriends
  13. 13. Love Of My Life

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