laut.de-Kritik

Der Messias teilt Wasser, Helene Schwarz und Weiß.

Review von

So helfen wir kein Plastik einzusparen. Zwei Drittel der Tracks auf Helene Fischers "Best Of" waren auf dem letzten "Best Of" enthalten, das ist erst viereinhalb Jahre alt. Seither passierte wenig. Die Pandemie ließ sogar das Pflicht-Event des Fischer-Kosmos ausfallen, ihre ZDF-Weihnachtsshow. "Atemlos Durch Die Nacht", "Phänomen", "Mit Keinem Andern", "Ich Will Immer Wieder... Dieses Fieber Spür'n", "Und Morgen Früh Küss Ich Dich Wach", "Die Hölle Morgen Früh", "Von Hier Bis Unendlich" und "Lass Mich In Dein Leben" - das ist nur die eine Hälfte altes "Best Of" im nunmehr "ultimativen" neuen Best Of. Das Beste setzt sich halt langfristig durch.

Tatsächlich kann ich mich erinnern, damals beim Hören "Und Morgen Früh Küss Ich Dich Wach" begierig verschlungen zu haben. Atemberaubende Bilder von Kopfkissen mit Satin-Bettwäsche, die sanft die weichschaumgefüllten Nackenstützkissen umhüllen, zauberte mir das feinfühlige Lied unmittelbar vor Augen und trieb mich "Atemlos Durch Die Nacht". Bilder sind wichtig, doch oh Schreck, jetzt hat Polydor die Track-Abfolge geändert. Und ultimativ folgt nun "Die Hölle Morgen Früh" bedrohlich direkt auf "Und Morgen Früh Küss Ich Dich Wach". Das eine stellt das andere Stück in einen ganz neuen Kontext: Der Kuss am Frühmorgen könnte eine Höllenqual sein? Hm, wer wird wohl gerne von dieser kalt berechnenden Business Lady mit ihrer Metall-Stimme wach geküsst?

Millionen Fans, so mag man erwidern. Von ihren heftigen Fans wird Frau Fischer für jedes Lied frenetisch gefeiert. Was das Beste ist, was Mittelmaß, und was vielleicht ein bisschen schlecht gewesen sein könnte, darüber lässt sich weder diskutieren noch spaßen: Helenes Gefolgschaft frisst ihr großenteils aus der Hand, denn ihr Publikum steht auf genau die Absolutheit und simple Unterteilung der Welt in Schwarz und Weiß, die sie vollzieht.

Zu ihrer Gedanken-Architektur gehört das Alles-oder-nichts-Prinzip: Songtitel wie "Hundert Prozent" (in beiden Best Ofs), "Null Auf 100" (nur hier und nicht zu verwechseln mit ihrem großen Hit "Von Null Auf Sehnsucht"), "Jetzt Oder Nie" (exklusiv auf diesem und keinen anderen Best Of's!), "Von Hier Bis Unendlich" (auch nur hier drauf), aber auch "Fehlerfrei" auf dem letzten Best Of und eine Häufung des Wörtchens "nie" in Songtiteln und Hooks ihres Gesamtwerks rammen es noch dem letzten ins Unterbewusstsein: Helene kennt nur die Extreme, Schwarz und Weiß, immer und nie.

Zur Zahl 100 pflegt sie übrigens ein treues Verhältnis. "Ich Glaub Dir Hundert Lügen", verkündet sie in beiden Compilations, analog zu dem Puls in "Null Auf 100" und den "Hundert Prozent". In "Hundert Prozent" versteckt sich, einem Konzept-Album ebenbürtig, gleich ein weiteres Schlüsselwort, 'Feuer'. Feuer ist an und für sich ein großes Thema im Metal, gleichfalls im Reggae, wo Babylon brennt, aber die größte Zündlerin bleibt halt doch die Helene. "Barfuß durch das Feuer / Würd' ich immer mit dir geh'n", schrillt sie, wobei der ebenfalls barfuß durch die Flammen latschende Nino De Angelo diese Woche zum Konkurrenz-Schlag ausholt.

Das "Feuer Am Horizont" hat sie im gleichnamigen Klassiker ihrer Best Of-Serie fest im Blick. Den Horizont sowieso. Helene-Platten erweiterten seit jeher den Horizont. Etliche Fundamente unserer Hochkultur wie "Feuerwerk", "Gefühle Wie Feuer Und Eis", "Ich Geb Nie Auf (Am Anfang War Das Feuer)" und "Engel Geh'n Durchs Feuer" missen wir schmerzlich. Aber okay, dies ist ein Konzentrat aufs Essenzielle, "Das Ultimative - 24 Hits". Es kann jede einzelne Facette dieser vielschichtigen Künstlerin nur andeuten. Das ist hart zu schlucken, aber durchaus die gestalterische Leistung dieser CD: Eine Auswahl zu treffen, und doch der Breite des Schaffens der 38-Jährigen gerecht zu werden.

Fischer fliegt auch sehr gerne, in "Flieger" zum Beispiel, und sie mag Action, in "Achterbahn", "Herzbeben", "Blitz" und "Volle Kraft Voraus". "Du Fängst Mich Auf Und Lässt Mich Fliegen" hieß es bereits auf dem letzten Besten des Schlager-Stars. Nie eine Hit-Single, ohne Charts-Position, findet sich aber auf der einschneidenden CD "Après-Ski Hits 2008", erschienen sogar schon 2007, weil sie visionär war.

Fiel mir bei der letzten Best Of noch auf, wie die Ammersee-Zuzüglerin die Angst von ihrer Haut streifte, so erlaubt mir das nagelneue ultimative Best Of, andere Seiten an dem Song zu entdecken. "Schick mich einfach los, die Welt entlang / Mein Herz ist wie ein Boomerang / Es kommt doch immer wieder bei dir an" nimmt natürlich raffiniert Bezug auf einen alten Superhit von Blümchen aus dem Jahre '96, "Boomerang" - eine geschmackvolle Referenz! "Du lässt mich schweben / Denn sonst würde ich erfrier'n. / Ich will das Gefühl mit dir zu leben / Noch Millionen Jahre spür'n" besingt Helene richtig sinnlich die Ewigkeit.

Diese Vorstellung des Erfrierens trotz Erderwärmung, und dieses geniale Bild des Schwebens, das praktisch das Element 'Luft' mit dem Feuer auf dieser Scheibe in ein Spannungsverhältnis bringt, wow! Da ist Helene gut dabei. Dank ihres filigran modulierenden Schreckschrauben-Timbres setzt sie solche Dramatik jederzeit überzeugend in Szene. Sie agiert alles aus, was in den Lyrics gesagt wird, sie verkörpert, lebt es, verschmilzt damit, wird die fleischliche Hülle für die erhabene Spiritualität dieser aufregenden Texte, welche die Liebe, das Menschsein und sein Streben nach Harmonie durchdringend erfassen.

Einzige Anmerkung: Wäre es nicht ein Dienst am Fan, zu Ehren der ultimativen CD in der Kategorie Hit-Recycling die alten Versionen neu einzuspielen? Ich hätte mir beispielsweise ein Rap-Feature von Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner gut vorstellen können, gerade um Helenes schmachtender Stimme eine Duettpartnerin an die Seite zu geben, die ein ähnlich zartes Organ einbringt. Schade auch, dass man die Gelegenheit nicht wahrnimmt, endlich eine Kollabo Helenes mit Label-Kollege Matthias Reim auf Platte zu bringen und so auch das Spiel der Geschlechter, welches vielen ultimativen Liedern Helenes innewohnt, neu und anspruchsvoll zu vertonen.

Matthias formulierte einst gegenüber dem Fachblatt Bunte etwas, das in die Bewertung von Fischers final ultimativen 24 Hits absolut einfließen muss: "Die musikalische Haltbarkeit ihrer Songs ist begrenzt. 'Atemlos' wird vielleicht noch etwas länger leben, der Rest ist Banane." - Bananen enthalten bekanntlich Kalzium, Kalium, Magnesium und sogar Vitamin C. Ein größeres Kompliment kann man Fischers Oeuvre kaum machen. Zudem passt das mit der Banane inhaltlich auf ihr Lied "Mitten Im Paradies", denn genau dort wächst ja die Banane.

Noch ein Wort zu den neuesten besten Songs. "Herzbeben" (2017) vermählt einzigartig die NDW mit dem Sound der Bloodhound Gang. Diese Brücken schlagende kulturelle Leistung ist ein musikalisch kluger Schachzug, da so gleich drei Generationen angesprochen werden, die der Neuen Deutschen Welle, die der Bluthund-Gang und diejenige, welche beides nicht kennt.

Zweisamkeit gibt es ganz selten auf der CD, doch im Folktronic-Schunkler "Regenbogenfarben ft. Kerstin Ott" (2018) wird der Traum wirklich wahr. Da singt die Atemlose mit der die immer lacht, die Zeile "Ich spiel die Luftgitarre, und wir sing'", sing, äh, singen. Zur Luftgitarre hören wir das hässlichste Drum Machine-Plug-In, das aufzutreiben war, was ich für ein Statement halte: Es ist das subversive Spiel mit dem Trash, mit Counterculture. Man kann sogar noch weiter gehen: Es ist eine reife Weiterentwicklung der Entertainerin, befruchtet durch einen sehr innovativen Gast. Der immer lacht.

Die Anpassung der deutschen Grammatik ans Taktmaß zählt zu den glänzenden Neuerungen der Ultimativität hier, und dass beide Stimmen im selben Satz im "ich- und im "wir"-Modus sing', fällt unters Motto "Volle Kraft Voraus". "Du Lässt Mich Sein, So Wie Ich Bin", lobt die 24-fach Hit-Erprobte. Man glaubt es ihr sofort. Niemand scheint ihr rein zu reden in ihren immer gleichen Brei, nicht mal Luis Fonsi im aktuellsten Streich, "Vamos A Marte ft. Luis Fonsi" aus "Rausch". Paargesänge verdecken jedoch leider, wie herzergreifend Helene sing' kann und wie einzigartig ungefähr sie die Töne trifft. Ich lade euch ein, das anhand einer Live-Performance von "Blitz" zu bewundern. Der Song handelt davon, dass ihre "Adern pulsier'n, so elektrisiert". Nahezu jede Note wird schief gesung', was die Flexibilität der Entertainerin zeigt, ihre Lieder extra für die Bühne fundamental ultimativ abzuwandeln.

Eines steht fest: Dieses Album wird sich auf dem Markt durchsetzen und herausragend verkaufen Schade nur, dass es für den Durchbruch in den USA und China noch nicht ganz ultimativ reicht, das ist ein "Phänomen". Es liegt sicher an den hochwertigen Liedtexten, deren Tiefsinn im Ausland noch nicht wertgeschätzt wird. Denn die Musik erfüllt internationales Niveau und wird als Laptop-Pop Schule machen.

Trackliste

  1. 1. Atemlos Durch Die Nacht
  2. 2. Herzbeben
  3. 3. Null auf 100
  4. 4. Phänomen
  5. 5. Flieger
  6. 6. Blitz
  7. 7. Mit Keinem Andern
  8. 8. Achterbahn
  9. 9. Ich Will Immer Wieder... Dieses Fieber Spür'n
  10. 10. Jetzt oder nie
  11. 11. Volle Kraft voraus
  12. 12. Vamos A Marte ft. Luis Fonsi
  13. 13. Regenbogenfarben ft. Kerstin Ott
  14. 14. Und Morgen Früh Küss Ich Dich Wach
  15. 15. Die Hölle Morgen Früh
  16. 16. Von Hier Bis Unendlich
  17. 17. Lass Mich In Dein Leben
  18. 18. Hundert Prozent
  19. 19. Vergeben, Vergessen Und Wieder Vertrau'n
  20. 20. Du Fängst Mich Auf Und Lässt Mich Fliegen
  21. 21. Feuer Am Horizont
  22. 22. Mitten Im Paradies
  23. 23. Ich Glaub Dir Hundert Lügen
  24. 24. Du Lässt Mich Sein, So Wie Ich Bin

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Helene Fischer

Die erfolgreichste deutsche Schlagersängerin stammt nicht aus München, Berlin oder Hamburg - sondern aus dem russischen Krasnojarsk. Wie so etwas geht?

8 Kommentare mit 37 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Keine Chance gegen Olaf von den Flippers. Musikalisch wie auch im Einzelkampf

  • Vor einem Jahr

    Für alle Schlager-Fans das ultimative Best-Of-Album. Selbst wer die letzte Best-Of von Frau Fischer besitzt, wird mit dieser ultimativen Zusammenstellung voll auf seine Kosten kommen und Tag und Nacht wie auf einer Achterbahn durch tanzen. Die Ein-Sterne-Wertung war ja so etwas von absehbar, die meisten Kritiker auf laut.de haben überhaupt keinen Musikgeschmack und wissen nicht, was gut ist. Dafür werden hier Gruppen wie Metallica hochgejubelt, auf deren aktuellen Album ein Lied wie das andere klingt.

  • Vor einem Jahr

    Gewohnt starkes Songwriting, wie man es von Deutschlands Speerspitze im extremen Metal erwartet. Dennoch muss ich einen Punkt abziehen, da die Breakdown-Parts den Hörfluß immer wieder stoppen. Klar, Metal darf und muss manchmal anstrengend sein und ein neues "Ordo ad Chao" wird Helene nicht aufnehmen, sie hat sich noch nie wiederholt. Etwas mehr hymnenhafte Hooks und weniger Verschrobenheit wäre dem Hörgenuß dennoch zuträglich. Für Fans von Mayhem und Marduk dennoch ein Öhrchen wert. Solide 4/5.

    • Vor einem Jahr

      Ja, aber dieses „Gitarrengewichse“ zwischendurch hat sie nicht nötig, sollte auf dem nächsten Projekt (EP soll ja im Herbst kommen mit noch unbekanntem Kollaboratoren) fehlen. Immerhin organisch und nicht in diesem „Powermetal“-mäßigen Sound.