laut.de-Kritik

Behutsamer und intensiver als "Post Pop Depression".

Review von

Nur 108 Sekunden! Mehr braucht Iggy Pop nicht, um eine melancholisch wohlige Atmosphäre zu verbreiten, die den Hörer irgendwo zwischen Mondschein und erstem Sonnenstrahl zurücklässt. Inmitten dieser entrückten Ambient-Landschaft lauert Leron Thomas' berührende Trompete, die den Track dorthin geleitet, wo uralte, artverwandte Perlen à la Miles Davis "Generique" warten. Was für ein Auftakt!

Iggys neue Platte stellt einen jener seltenen Fälle dar, in denen der Epilog dem Finale überlegen ist: Der gefeierte Vorgänger "Post Pop Depression" ist zwar nicht misslungen, täuscht auf Dauer aber nicht darüber hinweg, dass Arrangements und Produktion eher nach Josh Homme denn nach einem lupenreinen Osterberg klingen.

Zu wenig für ein echtes Musiktestament! "Nach Abschluss der Tour, die auf 'Post Pop Depression” folgte, spürte ich, dass ich das Problem ständiger Unsicherheit losgeworden bin, die mein Leben und meine Karriere viel zu lang verfolgt hatte. Dann ist mir dieses Album einfach passiert, und ich ließ es zu", betont er.

Iggys aktuelle Mitstreiter gehen weit behutsamer vor als Homme. Der monumentale Grundton des Vorgängers weicht sensitiven Momenten der Marke "Préliminaires" oder seiner Walt Whitman-Hommage "Leaves Of Grass", die in Pops Katalog eine wesentlich intensivere Rolle einnehmen als der reine Rock- und Proto-Punk.

Zwei Namen stechen heraus. Noveller alias Sarah Lipstate ist als Underground-Filmerin, Visual-Arts-Künstlerin sowie Avantgarde-Gitarristin bekannt, die hier – mal fließend, mal sperriger – die Soundscapes entwirft. Besagter Leron Thomas, seines Zeichens Trompeter und Jazzproduzent, der bereits mit Erykah Badu oder Meshell Ndegeocello kooperierte, übernimmt jene Funktion, die auf dem ähnlich gelagerten "Avenue B" Medeski, Martin & Wood übernahmen.

Vieles verweist auf die nachdenklichen Nummern jenes vor 20 Jahren, zur Midlife Crisis erschienenen Albums. Mittlerweile befindet sich der ledrige Leguan jenseits der 70. Kein Wunder also, dass er sich Dylan Thomas' "Do Not Go Gentle Into That Good Night" annimmt: Das Gedicht verkörpert das lodernde Aufbegehren gegen den Sensenmann. Kapitulation? Niemals! Auch wenn der Kampf aussichtslos ist. John Cale vertonte das Poem bereits auf "Fragments Of A Rainy Season". Gothic-Blueser Louis Tillett machte mit Sängerin Mary-Ellen Stringer daraus eine berückende Litanei. Iggy interpretiert die Zeilen hingegen als grimmig entschlossener, gesprochener Text. Noveller und Thomas liefern passenden Lavalampensound.

Wie so oft in Iggys Songs wird die Freiheit zum symbolischen Dreh- und Angelpunkt: "Ich wollte frei sein. Ich weiß, dass dies eine Illusion ist und dass Freiheit nur etwas ist, das man fühlt, aber ich habe mein Leben in dem Glauben gelebt, dass dieses Gefühl alles ist, was es wert ist, verfolgt zu werden. alles, was du brauchst - nicht unbedingt Glück oder Liebe, sondern das Gefühl, frei zu sein".

Die nicht ohne Bitterkeit geäußerte Erkenntnis mag Teil jenes enttäuschten Romantikers sein, der zeitlebens nie die eine große Liebe traf und Frauen begegnete, die viel von Iggy Pop wollten, sich indes selten für Jim Osterberg interessierten. "Love's Missing" thematisiert dieses Schicksal mit büffelknochentrockenem Rockriff, perfekt akzentuierender Trompete und einem Beat, der als Berlin-selige Reminiszenz ein Echo der "Nightclubbing"-Zeiten mit Kumpel David herauf beschwört.

Ähnlich gut funktioniert der spartanische, nahezu karg gehaltene Sommergroove "James Bond", dessen runde Melodie zum Effektivsten gehört, was der erklärte Canidenfreund in den vergangenen gut 25 Jahren geschrieben hat. Und immer wieder diese warme Stimme. So vertraut und lieb gewonnen wie ein alter Baum - und dabei so einsam klingend wie der Letzte einer aussterbenden Art. "We Are The People" webt dieses Timbre in sarkastische Worte an die Adresse einer offenbar wenig lernfähigen Menschheit. Thomas' Trompete hinterlässt schier mit Händen greifbaren Weltschmerz.

Während popkulturell meist seine historischen Stooges-Verdienste mit bedeutenden LPs wie "Fun House" oder "Raw Power" genannt werden, steht Iggys Talent als herausragender Komponist und Interpret großer Balladen zu Unrecht in deren Schatten. Alle paar Jahre bringt er Killer wie "Nazi Girl", "Miss Argentina" (beide "Avenue B"), "Hideaway" ("Blah Blah Blah"), "Moonlight Lady" ("Brick By Brick"), "Jealousy" ("American Caesar") oder das durch Ridley Scotts "Black Rain" bekannte "Livin' On The Edge Of The Night". Unter den zehn neuen Stücken gibt es mit "Page" nun endlich wieder eine Nummer gleichen Kalibers.

Besonders glänzt hier Iggys Gesang, der den Spoken Word-Vortrag aufgibt und sein Organ dezent von der Leine lässt, ohne die fast fragile Stimmung und weise Sensibilität des schönen Songs zu torpedieren. Entwaffnend milde verkündet er schlussendlich das wohl einzig mögliche Fazit: "We're only human".

Trackliste

  1. 1. Free
  2. 2. Loves Missing
  3. 3. Sonali
  4. 4. James Bond
  5. 5. Dirty Sanchez
  6. 6. Glow In The Dark
  7. 7. Page
  8. 8. We Are The People
  9. 9. Do Not Go Gentle Into That Good Night
  10. 10. The Dawn

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