laut.de-Kritik

Unverzichtbare Vortragskunst für Fans von Reggae & Dub.

Review von

Das Label Irie Ites Records ein Do-it-yourself-Betrieb. In einer Kleinstadt im Nordwesten Frankreichs erledigt ein kleines Team alles in einem Flow, zum Beispiel Aufnahmen - Irie Ites unterhält eigene Studios. Dann die Platten-Herstellung: Irie Ites arbeiten noch mit Vinyl und CD, so wie jetzt auf "Cream Of The Crop 2022". Auch Musikverkauf im eigenen Laden und -vertrieb ins ganze Land und in die Nachbarstaaten (z.B. zu uns) bleibt truely independent in der Hand des idealistischen Mini-Labels, das natürlich am Booking von Konzerten deutlich mehr verdient. Hat.

Die ersten beiden Lockdowns trafen genau solche Firmen an allen Ecken und Enden, weil Artists auch nicht mehr in Alben investieren wollten. "Viele Künstler haben mich gefragt, ob es Sinn mache, überhaupt irgendwas rauszubringen oder nicht besser sei, bis zum Ende der Pandemie zu warten", verrät Jérôme, der bei Irie Ites Records arbeitet. "Denen habe ich gesagt: Ihr wisst ja gar nicht, wann das mit dem Virus ein Ende hat. Wenn der hartnäckig fünf Jahre bleibt, hieße das ja, fünf Jahre lang nichts zu veröffentlichen. - Und dann meinten die meisten: 'Oh, nee, ich brauche das als Existenzgrundlage.' - Also haben viele sich dann für Singles oder kleine Projekte entschieden. Und ich habe viele große Artists, mit denen ich zusammen arbeite, die große Projekte verschoben haben und es nach ein, zwei Videoclips gut sein ließen."

Voilà, hier liegt nun eine schöne Sammlung von knackigen Singles und von guten Beiträgen auf harten, trockenen Riddims vor - teils mit Producer-Handschriften wie Roots Radics oder Mafia & Fluxy. Allerdings datieren manche Aufnahmen bis weit vor Corona zurück, ohne vorher aus den Archiven geschlüpft zu sein.

20 Jahre wird Irie Ites im nächsten Jahr. Während der langen Schaffenszeit sind zwei wirklich Große, mit denen man gerne arbeitete, verstorben, John Holt ("Police In Helicopter", "The Tide Is High") und Sugar Minott. Mit Minott durfte man textlich öfter mal Ausschau halten, ob irgendwo Gefahren lauern - in "Watch Di System" oder "Watch Dem Foul Play", und auch hier in "Watch Dem" empfiehlt er Wachsamkeit: Gegenüber den 'bad-mind'-Leuten und ihren toxischen Emotionen. "Grinsen, essen und trinken mit dir, hinter deinem Rücken kreuzigen sie dich. Neun von zehn, von denen du meinst, dass sie's aufrichtig meinen, kämpfen gegen dich", warnt Sugar Minott mit seiner samtenen Stimme zwischen dubbigem Blubbern.

Minott war in Frankreich ein ungemein beliebter Artist. In den '80ern zählte der Jamaikaner zu den Reggae-Künstlern mit den größten Outputs und einem der breitesten Spektren, Lovers Tunes, Rub-a-Dub, Dancehall, Dub-Verarbeitungen, Roots. 2010 starb er an einer Herzattacke, blieb aber eine unsterbliche Referenz für guten Rasta-Gesang. Er eröffnet die Compilation.

Mit Eek-a-Mouse stemmt ein weiteres Original der Achtziger seinen Kiefer dehnenden Gesang und lautmalerisches "di-di-di-di" und "dem-dem-dem / a-ski-bi-li-deng" gegen die massiven Trommelschläge des Riddims (Produzent: Manuel Malhoeuvre a.k.a. Jericho). "Put Food On The Ghetto Youth Table" heißt sein Beitrag aus Lockdown Nummer Zwei. Er verbrachte die Corona-Zeit in Schweden, veröffentlichte darüber unterdessen einen Gedicht- und Bildband, "My Corona Year In Sweden 2020". Der Zwei-Meter-Mann versteckte, exklusiv für iTunes- und Amazon Music-Abonnenten auch ein gleichnamiges Album "Put Food Pon De Ghetto Youths Table", das kaum jemand wahrnahm (September '22). Gut, dass er noch aktiv ist: Seine Raggamuffin-Kompetenz, die darin besteht, auf Trampolin-Beats traurige Themen beschwingt zu verhandeln, die bleibt unantastbar. Da singt und sing-jayt er darüber, wie Menschen ermordet werden. Oder warum manche Leute gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld und andere nichts zu beißen haben. Das alles referiert er in anmutiger Sanftheit, so als müsse man in seiner Gegenwart keine Angst vor der Brutalität da draußen im Ghetto haben.

Agent Sasco hat in seiner Schulzeit erlebt und erlitten, wie Lehrkräfte seine Class Mates abschrieben, nach dem Motto, 'so wie eure Väter hinter Gittern landeten, werdet ihr auch enden'. Es ließ ihm keine Ruhe. Als Erwachsener engagiert sich der Stevie Wonder-kundige Soul-, Funk- und Gospel-Liebhaber im Projekt 'We Transform', das Jugendlichen aus strukturschwachen Familien und Wohngegenden eine Aufgabe, Ermutigung, Empowerment und Sinn gibt, sie angemessen fordert - und sie irgendwie zuhause halten soll, während die allgemeine Abwanderung Richtung USA enorm ist. Der Agent, der sich einst als Dancehaller namens Assassin von den Greensleeves-Riddim-CDs bis zu seiner persönlichen "Theory Of Reggaetivity" durch arbeitete, lässt mit dem eingängigen "She's A Saint" einen wunderschönen Boom Tune vom Stapel - mit Oldschool Boombap-Style in den Beats. Seine charakterstarke Stimme passt perfekt zu den bounzenden Bass-Drums dieses halb-digitalen Musikunterlegers. Wie inzwischen fast immer, zeichnet Agent Sasco einen Charakter (hier eine Frau, die sich gut nach außen darstellt und ihren Partner blendet), und das Milieu, in dem dieser Charakter unterwegs ist.

Unter den durchweg hochwertigen Beiträgen ist noch die eine Hälfte der lebenden Legenden des Rocksteady, Keith & Tex, hervor zu heben: "Keith Rowe - Groovy Situation" schillert als energiegeladenes Nugget in der Zusammenstellung. Den herzzerreißenden Vortrag umgarnen metallische und blasenartige Töne, die alle zusammen ein auffälliges Stück ins heutige Rasta-Einerlei zaubern. Auch das junge Rub-a-Dub-Talent George Palmer aus dem spanischen Baskenland sticht hervor. Mit seiner Vibrato-Stimme bewegt er sich stilistisch dicht am alten Granden Horace Andy, und der Spanier recycelt das oft gesampelte "Here I Come" von Barrington Levy ("George Palmer + Lion D - Come We Just A Come", "George Palmer - Love In The Dance", eine CD erschien im Juni '22).

Anthony B zieht seinen Raggamuffin mit dem Herz voller Liebe ("my heart is full of love") verlässlich routiniert durch. Die einheizende Kampfansage an Babylon von "Lyricson - No Worry" kann Karriere auf der Tanzfläche machen und grüßt aus Guinea, und auch der Anglo-Afro-Italiener David Lion D ist nach seinem Comeback-Album (Juni '22) mit an Bord. Digital und auf CD folgen klassischer Weise noch neun Dub 'Versions'. Sie klingen überwiegend neutral und eher beruhigend. Besonders schön pulsiert der "Hit Hit Hit Dub", und der "No Worry Dub" spielt feinstes Klang-Tischtennis. Auch wenn diese Dubs sich eher im soliden Mittelfeld des Genres bewegen, so heben die Vokal-Darbietungen die "Cream Of The Crop 2022" (in etwa "Beste Ernte 2022") auf hohes Niveau: Im Segment 'Reggae-/Dub-Sampler' handelt es sich somit um eine ausdrucksstarke, und in manchen Momenten Horizont erweiternde Kollektion.

Trackliste

  1. 1. Sugar Minott - Watch Dem
  2. 2. Eek A Mouse - Put Food On The Ghetto Youth Table
  3. 3. Stinging Ray - Fire In Your Eyes
  4. 4. Linval Thompson - Ganjaman
  5. 5. Glen Washington - Liar Liar
  6. 6. George Palmer + Lion D - Come We Just A Come
  7. 7. Anthony B - Raggamuffin
  8. 8. Stranjah Miller - Hit Hit Hit
  9. 9. George Palmer - Love In The Dance
  10. 10. Capleton - Throw Us Down
  11. 11. Lion D - Alert
  12. 12. Agent Sasco - She's A Saint
  13. 13. John Holt - On A Friday Night
  14. 14. Lyricson - No Worry
  15. 15. Puppa Nadem, Keefaz, Tomawok - Family
  16. 16. Keith Rowe - Groovy Situation
  17. 17. Watch Dub
  18. 18. Put Dub On The Turntable
  19. 19. Fire In Your Dub
  20. 20. Ganja Dub
  21. 21. Dub In The Dance
  22. 22. Hit Hit Hit Dub
  23. 23. Throw Us Dub
  24. 24. No Worry Dub
  25. 25. Russ D, Irie Ites - Dub Situation

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