laut.de-Kritik
Reggaeton, Hyperpop und Tumblr-Porn.
Review von Yannik GölzIn diesem Sommer fand die honduranische Reggaeton-Künstlerin Isabella Lovestory unerwartete Anerkennung in Übersee, als sie für die koreanische Girlgroup Le Sserafim den viralen Song "Anti-Fragile" mitproduzierte. In der dortigen Bubble wurden sofort Vergleiche mit Rosalía gezogen, die wiederum darauf hinwies, dass es nicht nur in Spanien, sondern auch in Lateinamerika Reggaeton gibt.
Dieser Verweis auf Herkunft stellt eine interessante Anekdote dar, die komplett missversteht, was das Genre heute ausmacht. Isabella Lovestory hat nämlich mehr mit Künstlerinnen wie Rosalía gemeinsam als mit stereotyperen Reggaeton-Acts wie Karol G oder Becky G. Mittlerweile in den USA bzw. Kanada ansässig, macht sie Reggaeton in der Diaspora, als Kunstform ihrer Generation: Offen für neue Sounds, radikal online und absolut kompromisslos hart.
Bereits auf "Amor Intro" zeichnen sich Sound-Designs und Klanggriffe ab, die sie in den Dunstkreis von Hyperpop-Szenefiguren wie A.G. Cook oder Danny L. Harle rücken: Digital gesamplete Ambience, stechend-leuchtende Klangfarben und Rubber Bass unter den klassischen lateinamerikanischen Drums. Die Nähe zu den Briten ist zum Teil wohl Zufall, immerhin bewegte sich Lovestory in den 2000ern und 2010ern in denselben eigenbrödlerischen Tumblr-Sphären und fing dieselbe Y2K-Faszination ein wie die Hyperpopper auf anderen Seiten des Ozeans. Aber wie die große gegenseitige Anerkennung der Lager zeigt, wird es auch nicht nur purer Zufall gewesen sein.
Das Ding ist nur: Reggaeton fügt sich wunderbar in Hyperpop ein. Es hat einen Grund, dass Arca derzeit zu den innovativsten Musikern zählt, die noch zum Profil dieser radikal weiter ausfransenden Subkultur gehören. Es hat einen Grund, dass sowohl "Motomami" als auch Bad Bunnys "Un Verano Sin Ti" fast persiflierenden Rubber Bass- und Autotune-Einsatz in bestimmten Momenten zeigen. Was die Britin Shygirl im Eurodance gefunden hat, findet die Honduranerin Isabella Lovestory in diesem sich niemals müde tretenden Reggaeton-Dancebeat.
Und um nicht weiter um den heißen Brei zu reden: Jenseits aller Einordnung des Untergrund-Phänomens Isabella Lovestory zwischen den großen Plattentektoniken der modernen Popgrenzen ballert dieses Album komplett. Unter anderem, weil Isabella eine geradezu magnetische Präsenz am Mic darstellt. Man muss kein Spanisch verstehen, um sich sofort in den Bann von "Sexo Amor Dinero" ziehen zu lassen. Sie gibt, sie gibt, sie gibt, wenn sie die Silben des Refrains synkopiert weiter in den Beat zurückfallen lässt, wenn sie sich mit ihren eigenen Adlibs duelliert oder einfach mit dem größten, herablassenden Missfallen über ihr Gegenüber spittet.
Es gibt zahllose Momente auf diesem recht kurzen Album, die zeigen, dass Isabella für diese Art von Musik geschaffen ist. Und mit Produzent Chicken aus New York hat sie auch noch den idealen Partner in Crime, der ihr Banger-Mindset teilt, aber dennoch Interesse an schrägen Experimenten mitbringt, die die Tracklist unberechenbar machen. Etwa der Breakdown gegen Ende von "Sexo Amor Dinero" mit seinem destruktiven Bass in der ätherischen 8Bit-Synth-Melodie, die sich öffnet wie der Himmel nach einem Wolkenbruch. Der Loop auf "Fashion Freak", der nach der Spitze der Jamba-Klingelton-Charts klingt, oder das dunkle, psychedelische Arp-Geflimmer auf "Unica".
Aber schließlich ist das Coole an den besten Reggaeton-Hits der Gegenwart, sei es "Con Altura", "Dakiti" oder "Amarillo", dass es eigentlich nur einen Beat mit einem geil klingenden Loop, diesen unwiderstehlichen Drumloop, und eine swaggy Präsenz am Mic braucht. "Amor Hardcore" ist dreißig Minuten Reggaeton-Hit pur, ohne Pause oder Filler, die mehr im Vorbeigehen ein Bild des Genres als adaptives, vermittelndes Medium zeigt.
Denn trotz der Tatsache, dass Isabella Lovestory zwanglos das Leben einer riesigen Party zu sein scheint, zeigt sie dieses Album auch als einen Outsider, als einen Nerd, als eine Verkettung von Marginalisierungen und Eigenbrödlereien, die nur in einer multikulturellen und vom digitalen Raum völlig ortlos gemachten Welt möglich sind. Gleichgültig, ob sie nun an Hyperpop, K-Pop oder komplett klassisch lateinamerikanischen Reggaeton andockt.
3 Kommentare mit 11 Antworten
Disclaimer für Neulinge
4 Punkte vom Gölz bedeuten: Kann sich keiner ernsthaft anhören.
Naja, immerhin kann er seinen beschissenen Geschmack in feuilletonistische Wörter kleiden. Oft reicht das ja schon. Nach laut.de winkt also wahrscheinlich der Spiegel.
Disclaimer für Neulinge:
Ragismo ist ein Idiot, selbst dann wenn er Recht hat.
Neulinge...? Ihr seid ja optimistisch...
Ich versuche ja, der Sache hier eine Chance zu geben. Dann mach ich das verlinkte Video zu Cherry Bomb an, sehe ein Standard-Arsch-und-Titten-im-Dutzend-billiger-Video, innerhalb von Sekunden setzt der seit 30 Jahren gleich klingende Dum-Ta-Dum-Tata-Reggaeton-Beat ein und ich sage mir mal wieder, dass ich es von Anfang an hätte wissen müssen, nachdem ich nur den Untertitel des Reviews gelesen hatte. Gibt es eigentlich Genres, die eintöniger und gleichförmiger sind als Reggaeton? Ich meine, was definiert denn dieses Genre außer eben dieser typische Drumbeat?
Drumbeat und Produktion sind fast das einzig Wichtige bei dem Genre. Die "Musiker", "Sänger" usw. sind quasi egal. Sie sollten möglichst peinlich gangster-bad-boyig, oder nach Maßstäben der dümmsten Ballermann-/Glam-Porno-Hirnis möglichst "sexy" sein. Inhalte oder Talent sind weitgehend irrelevant.
Ist ja nicht verkehrt. Gibt einige respektable Genres, die quasi nur aus der Arbeit des DJs/Produzenten bestehen.
Bad Bunny und Rosalia sind an der Genre-Spitze sowohl vom Erfolg als auch vom Talent her. Beide extrem krasse Alben dieses Jahr rausgebracht. Gibt und gab sicher noch paar weitere Acts die paar gute Melodien in das Genre gebracht haben aber 90 Prozent aller mir bekannten und Reggaeton Künstler sind total gleichförmig und beliebig. Siehe Anuel AA, Lunay usw. J Balvin finde ich aber noch ganz gut obwohl die Alben meistens eher mittelmäßig sind. Das Album hier finde ich aber auch total Banal.
Bad Bunny und Rosalia sind an der Genre-Spitze sowohl vom Erfolg als auch vom Talent her. Beide extrem krasse Alben dieses Jahr rausgebracht. Gibt und gab sicher noch paar weitere Acts die paar gute Melodien in das Genre gebracht haben aber 90 Prozent aller mir bekannten und Reggaeton Künstler sind total gleichförmig und beliebig. Siehe Anuel AA, Lunay usw. J Balvin finde ich aber noch ganz gut obwohl die Alben meistens eher mittelmäßig sind. Das Album hier finde ich aber auch total Banal.
"Ich meine, was definiert denn dieses Genre außer eben dieser typische Drumbeat?"
Vermutlich der Hass auf Kunst.
@Hitek: Kann sein, daß Rosalia für dieses ziemlich öde Genre was getan hat. Habe nur überhaupt nicht verwunden, wie diese fantastische Sängerin sich zu so austauschbarem Autotune-Müll herablässt. Also, im Vergleich zu manchen ihrer vorherigen Werke.
Nun, das wird es mangels anderer Merkmale wohl sein.
Hiteek, mich interessiert es ernsthaft: Wo genau siehst du bei einer Rosalia und einem Bad Bunny, wie sich sich vom Genre-Einheitsbrei abgrenzen? Ich habe mir jetzt gerade nochmal zu beiden ein paar Tracks angehört, und bei beiden höre und sehe ich nichts, aber auch gar nichts, was in irgendeiner Weise vom Genre-Standard abweicht. Sound, Produktion, Video-Ästhetik - alles schon vor mehr als zehn Jahren so oder so ähnlich dagewesen und als Genre-Tropes etabliert. Das hätte aus meiner Sicht alles genauso zu Zeiten erscheinen können, als Jennifer-Phoebe und ihre crazy Freundinnen damals in der Großraum-Disse am Autobahndreieck zu Daddy Yankees "Gasolina" mega abgedanced haben.
"Ich versuche ja, der Sache hier eine Chance zu geben."
Warum eigentlich? Lass den Müll links liegen, gibt genug tolle Musik da draußen.
@Dudebro
Hier, ein weiterer viel zu alter Reggaeton-Hater. Zu Bad Bunny kann ich nichts sagen, kenne ich nicht; aber Rosalia ist eine andere Hausnummer, alleine schon, weil sich hier jemand mit musikalischer Bildung und Klasse am Genre abarbeitet, und dieses zwar zitiert, aber eben auch sublimiert.
Den ersten Hinweis darauf gibt es schon im ersten Track des aktuellen Albums - zuerst wird gekonnt das 1mal1 des Genres geliefert (gekonnt, weil es sich zwar nach Standard anhört, aber trotzdem schon beim zweiten Hören einen erstaunlichen Wiedererkennungswert offenbart); dann folgt aber ein seltsamer Jazz-Break. Spätestens beim vierten Lied, Bulerías, sollte dann jedem klar sein, dass das hier anders ist. Der Song ist rein faktisch schon melodisch komplexer als ca. 99,9 % aller Popmusik, und dabei experimenteller als das allermeiste, was heute so z. B. unter Indierock läuft.
Rosalia macht, wenn man die Oberfläche mal durchschaut hat, progressivere Musik als viele Prog-Bands, die die inzwischen seit Jahrzehnten bekannten Genrestandards wiederholen.
Weitere Anspieltipps vom Album: Hentai, G3 N15, Diablo, Delirio de Grandeza, CUUUUuuute, Como un g, Sakura. Alles weit weg vom Standard.
Eines meiner momentanen Lieblingslieder ist außerdem Nos Quedamos Solitos vom älteren Album Los Ángeles. Ein herrlich herausforderndes Stück mit einem ergreifenden Schluss. Keine Ahnung, wo dein musikalischer Sweetspot liegt, aber das sollte auch jedem Indiehörer gut reingehen.
Jaja, dieses Albung ist auf jeden Fall besser als KD3, jaja.