laut.de-Kritik

Hispanischer Drake? Eher einer der größten Artists der Welt.

Review von

Bad Bunny gehört in die Toplisten-Diskussion. Im Reggaeton? Im Pop? Im Rap? Make a pick. Sie wären alle richtig. Der 28-jährige Puertoricaner hat die lateinamerikanische Musik seit seinem monumentalen "X100Pre" von 2018 durchgespielt, in den letzten Jahren drei genauso gute Platten draufgelegt und wurde folgerichtig allein auf Spotify jährlich über 15 Milliarden Mal gestreamt. Mehr als sonst wer. Langsam kommt zwar auch bei den letzten Europäern an, dass Benito irgendwie krass ist. Aber man verunglimpft ihn immer noch als so etwas wie den hispanischen Drake. "Un Verano Sin Ti" widerlegt diesen Verdacht. Nicht nur, weil Drake gegen dieses Album qualitativ Staub frisst. Über eineinhalb Stunden wandert Raggaeton hier über alle Genre-Grenzen hinweg und beweist: Bad Bunny ist ein Generationen-Talent, kompromisslos innovativ und gleichzeitig unfähig, keine Hits zu machen.

Das fängt mit dem euphorischen Banger "Moscow Mule" an, der wahrscheinlich in Kürze wie ein Komet in die Charts einschlägt. Die euphorisch flackernden Marimbas gegen die Fernweh-getränkten Synthesizer: Bad Bunny hat seit dem überragenden "Dakiti" seinen ultimativen Reggaeton-Sound gefunden und macht damit Songs, die wie ein versteckter Strand am Horizont der großen Stadt klingen. Ein bisschen wehmütig, ein bisschen nostalgisch, aber so warm, geladen und energetisch, dass sie süchtig machen. Für jedes andere Tape wäre "Moscow Mule" die definitive Single und ein den Rest der Platte überstrahlender Hit, hier aber vergisst man fast, dass sie da ist.

Der folgende Song "Depsués De La Player" belegt die Kompromisslosigkeit dieses Albums. Epischer Synthesizer-Aufbau, der auch von Clams Casino hätte stammen können, überragende Melodien von Bad Bunny und der Beat könnte schon wieder ein Überhit für sich sein. Dann unterbricht er bei der Hälfte, scheiß drauf - "Zumba!" schreit der Rapper, Live-Band, Mambo-Instrumental, "Ey! Ey! Ey! Ey!". Das Tempo zieht an, der Song geht härter und härter und plötzlich bemerkt man, wie sehr man das Rausgehen vermisst hat.

Bad Bunny schmeißt eine Party, und sie wirkt weder furchtbar noch überfordernd. "Party" heißt ein Song mit Rauw Alejandro - dieses Album würde Komapatienten zum Wippen bringen. Die goldene Reggaeton-Formel mit allen lateinamerikanischen Weltstars herab zu tanzen, daraus besteht hier das Fillertrack-Line-Up. Und jeder dieser Songs, die auf der langen Spielzeit ein bisschen zusammenfallen, hätte für sich eine Single und ein massiver Hit sein können. Bad Bunny, seine Produzenten und Kollaborateure sind einfach zu gut darin, diese stampfenden Drumlines gegen endlos wiederhörbare Synths- und Croons zu legen.

Die melancholische Gitarren-Melodie im Kern von "Neverita" baut mehr Nostalgie auf als fast alle gerade arbeitenden Indie-Bands, nur um es dann in diesen glitzernden, beseelten Retro-Stampfer zu transportieren, der brillant um die eigenen Tempo-Wechsel aufgebaut ist. Bunny croont sich die Seele aus dem Leib, während alle dreißig Sekunden in ein neuer Schub aufgebaut wird. "El Apagón" klingt ein bisschen wie Azealia Banks' "212", nur dass die ballernde Drumline sich wie ein "Yeezus"-Cut immer weiter in diese ekstatische Electronica-Nummer aufpeitscht, während Bad Bunny zeigt, dass er gerade einen der dicksten Flows der Welt hat, wenn er mal am rappen-rappen ist. Dann diese gefilterten Vocal-Layers auf den marodierenden Techno-Drop? Ein Moshpit-Starter vor dem Herren.

Aber es sind nicht nur die Banger: "Yo No Soy Celoso" nimmt wieder diese atmosphärischen Gitarren-Brisen und lässt Bad Bunny in seinem tiefen Register singen. Ein verlorener Synthesizer, eine Konter-Melodie und ein endlos eingängiges Pfeifen formen sich nach einem wunderschönen Refrain zu dieser perfekt sehnsüchtigen Afterhook. Bei dem fünfminütigen "Andrea" handelt es sich um eine nüchterne, erschöpfte Abhandlung über den Femizid an Andrea Ruiz Costa, auf dem er von der puertoricanischen Synth-Pop-Band Buscabulla unterstützt wird. Es entsteht Raum für Reflektion und eine Geschichte, während das Instrumental Spannung, Abwechslung und Klangtiefe erzeugt.

Die Indie-Gruppe The Marias unterstützt Bad Bunny auf "Otro Atrardecar" und es entsteht eine eingängige, unterschwellige Reggaeton-Rock-Fusion, deren bombensolider Groove experimentelle Synth-Schwaden akzentuieren, während Lead-Sängerin Maria Zardoya und Bad Bunny sich ein tristes, reumütiges Duett liefern. Der Titeltrack "Un Verano Sin Ti" kommt in den letzten Zügen der Platte als eine klanglich ausgefallene Power-Ballade, irgendwo zwischen Bryson Tillers "Trap Soul" und Rosalías "Motomami". Der inzwischen drei Jahre alte Hit "Callaíta" schließt das Projekt mit einem weiteren Monster-Refrain ab, der der perfekten Chemie zwischen Bad Bunny und Produzent Tainy ein weiteres Denkmal setzt.

Wer unbedingt etwas gegen dieses Album einwenden will, könnte auf das fehlende übergeordnete Konzept bei über 23 Tracks und eineinhalb Stunden Spielzeit verweisen. Doch dann lässt man sich auf die hier dargebotene Großartigkeit einfach nicht ein. Bad Bunny steht gerade ganz oben – und bastelt, probiert und experimentiert. Die extreme Breite und Tiefe dieses Albums wäre auch dann beeindruckend, wenn nicht trotzdem ohne Übertreibung jeder Song ein absoluter Hit wäre. Dieses Album lässt Zeit schneller vergehen. Dieses Album lässt Feiern wieder wie etwas Großartiges aussehen. Dieses Album ist der kommende Sommer.

Trackliste

  1. 1. Moscow Mule
  2. 2. Después De La Playa
  3. 3. Me Porto Bonito (feat. Chencho Corleone)
  4. 4. Tití Me Preguntó
  5. 5. Un Ratito
  6. 6. Yo No Soy Celoso
  7. 7. Tarot (feat. Jhay Cortez)
  8. 8. Neverita
  9. 9. La Corriente (feat. Tony Dize)
  10. 10. Efecto
  11. 11. Party (feat. Rauw Alejandro)
  12. 12. Aguacero
  13. 13. Ensename A Bailar
  14. 14. Ojitos Lindos (feat. Bomba Estéreo)
  15. 15. Dos Mil 16
  16. 16. El Apagón
  17. 17. Otro Atardecer (feat. The Marias)
  18. 18. Un Coco
  19. 19. Andrea (feat. Buscabulla)
  20. 20. Me Fui De Vacaciones
  21. 21. Un Verano Sin Ti
  22. 22. Agosto
  23. 23. Callaita

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8 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 2 Jahren

    Drei Wochen nach Release. Album schon dutzende Male durch. Das Album des Jahres bis jetzt. Es ist einfach 95% hitdichte und volltreffer. Unfassbar. Der Titeltrack ist einer der besten Songs die ich je gehört habe auf Spanisch. Jubelpersen bis zum get no.

    10/10

  • Vor 2 Jahren

    Mein Kommentar wurde direkt entfernt weil ich damals nicht verstand wie Menschen so einen synthetischen, unauthentischen Schrott hören können.

    Mittlerweile bin ich größter Fan, für mich bis dato mit Abstand das Album des Jahres. Hätte es vllt 3 mal anhören sollen bevor ich einen Kommentar verfasse. Das ist auch über Genregrenzen hinweg absolut sympathische, emotionale, authentische Musik - auch trotz Autotune. Selten hat ein Album bei mir so eine unfassbar gute Laune erzeugt.