laut.de-Kritik
Wohlig warm wie ein Erkältungsbad.
Review von Jeremias Heppeler1929: Das Chateau Mormont Hotel öffnet seine Pforten am Sunset Boulevard. 1982: Der Schauspieler John Belushi jagt sich in einem Zimmer des mittlerweile legendär gewordenen Hotels einen Speedball in den Venen und stirbt in der Folge an einer Überdosis Kokain und Heroin. 2002: Chilly Gonzales und Jarvis Cocker laufen sich auf dem Primavera Festival über den Weg. Vor dem Hintergrund gegenseitiger Bewunderung entsteht ein Gespräch. Als die beiden Musiker feststellen, dass sie beide in Paris wohnen und sich mehr als ordentlich verstehen, entschließt man sich zunächst zu weiteren Treffen in der französischen Hauptstadt. Eine Freundschaft entsteht.
2017: Die beiden Musiker veröffentlichen ihr Projekt "Room 29", ein Konzeptalbum, das sich mit Geschichten rund um das Chateau Mormont und mit den Anfängen der Traumfabrik auseinandersetzt. Die erste Frage die sich stellt: Warum? Warum diese Idee? Warum ein Liederzyklus? Warum ein so konkretes Thema?
Die Antwort: Mehrschichtig. " Wenn ich an etwas arbeite, ist es für mich auch Eskapismus. Ich werde die Art, wie ich Musik mache, nicht ändern, nur weil die Welt um mich herum politisch ist. Ich bin ja kein politischer Künstler.", meint Chilly Gonzales im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Recht hat er. Während sich Film und Roman problemlos durch die Historie und die Zeiten manövrieren, scheint Popmusik dazu verdammt, sich immer auf die blöde Gegenwart zu konzentrieren. Alles und jeder verlangt nach direkten Statements zu direkten Diskurse, obwohl wir, die wir alle so erbarmungslos in sozialen Netzen und Netzwerken eingewickelt sind, doch ohnehin mit Statements und Meinungen zugeschissen werden (bitte entschuldigt meine Wortwahl!).
Eskapismus ist das Stichwort. Kopfüber in die Utopie der Zeitreise. Wir marschieren durch ein Hollywood der 30er Jahre, das uns retrospektiv irgendwie magisch vorkommt und das wir uns automatisch schwarz-weiß vorstellen. Gonzales und Cocker unterstreichen das durch ihr nuanciertes, wohliges Spiel, das uns als Zuhörer warm umschließt wie eine Erkältungsbad. Hier das Piano, beschwingt und beschwipst und ein wenig einsam, wie ein einsamer Geschäftsreisender in einer Hotellobby, der sich noch einen mittelmäßigen Drink an der Bar genehmigt. Da: Jarvis Cocker, der tiefer und eindringlicher singt als wir es von ihm gewohnt sind, ein wenig Märchenonkel, ein kleines bisschen Nick Cave und eine minimale Prise Tom Waits. Dazwischen: Das Hamburger Kaiser Streichquartett, das für die großen, die verträumten, die Alles-und-Nichts-Momente zuständig ist.
So entsteht die vielleicht angenehmste und entspannteste Hörerfahrung des Jahres. Gleichermaßen anspruchsvoll und mitreißend, aber eben doch so eindringlich zurückhaltend und nuanciert, das man gar nicht anders kann, als sie am Stück in sich hinein zu konsumieren. Und natürlich trieft "Room 29" regelrecht vor Nostalgie, aber eben nicht diese seltsam verklärte 80er und 90er Jahre Nostalgie, die uns gerade im Kino in Form von Remakes und Reboots zu Tode nervt, sondern als total verträumte Sehnsucht nach einer Zeit, die keiner von uns erlebte. Hier tun sich offensichtliche Parallelen zu Christian Krachts Roman "Die Toten" aus dem vergangenen Jahr auf.
Die Form folgt dem scheinbar vergessenen Genre des romantischen Liederzyklus, die Funktion wird allerdings immer wieder durch Narration und Einsprengsel wie ironische bis tragikomische Verweise auf Bar-Musik oder gar Musicals erweitert. "Room 29" klingt wie aus einem Guss, die einzelnen Stücken wirken zu keinem Zeitpunkt als voneinander getrennte Einzelwerke, sondern immer als Teil des großen Ganzen, als Szenen eines Films oder eines Theaterstücks.
Das führt dazu, dass "Room 29" problemlos als vor sich hin dudelnde Hintergrundmusik, aber auch als intensive Hörerfahrung funktioniert. Darin liegt die ganz große Kunst zweier fantastischer Protagonisten, die nur noch das machen, worauf sie wirklich Lust haben.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Wow, ich stelle gerade fest, dass das der erste Release dieses Jahr ist, der mich wirklich interessiert. Könnte DIE eine Platte für mich sein.
2017.
Da hat sich der Jarvis ähnlich gut ins nächste Jahrtausend gerettet wie der Damon damals mit den Gorillaz. Der Chilly i.Ü. macht jetzt auch seit ner guten Dekade auf Albenlänge wenig bis nix falsch.
Schöner Vergleich.
Vielen Dank