laut.de-Kritik
Ein Konzeptalbum über Sex: Den guten, den schlechten und den hässlichen.
Review von Yannik GölzMan hätte Jasmine Sullivan als alte Garde abtun können, wenn sie 2021 so geklungen hätte wie auf ihren drei Alben zwischen 2008 und 2015, als sie noch ein Schützling von Missy Elliott war. Überholt von frischen Stimmen, überbrückt von neuen Sounds und überdauert von neuen Perspektiven. Was die R'n'B-Sängerin aus Philadelphia aber auf "Heaux Tales" abliefert, ist eine so raketenhafte Steigerung ins Hier und Jetzt, dass sie plötzlich wie dessen neue Speerspitze erscheint. In acht Songs zeichnet sie mit scharfsinniger Präzision, einfühlsamer Solidarität und bittersüßem Wehmut alle Schichten der weiblichen Sexualität auf – und klingt dabei wie die Besten ihrer Zunft.
Aufgebaut ist das Projekt mit verschiedenen Spoken Word-Interludes, in denen verschiedene Frauen mit ihren Beobachtungen zum Thema zu Wort kommen. Ein berühmter Autor sagte einmal über das Biographieren, man solle nicht horizontal durch die Zeit kartographieren, was man erlebt hat, sondern vertikal alle markanten Einschnitte zu einem Thema festhalten, die sofort in den Kopf schießen. Sullivan weitet dieses Konzept quasi ins Kollektiv auf und lässt verschiedene Frauen assoziativ darauf los erzählen, was ihnen zum Thema Sex einfällt. Auf jedes Interlude folgen Songs, die dieselbe Stimmung spiegeln.
Es stellt sich heraus, gerade für materiell arme schwarze Mädchen bewegt sich Sexualität in hundert Richtungen, und "Heaux Tales" nähert sich jedem Faden mit Fürsorge an, der sich daraus ergibt. Zum Beispiel: Die pure Seligkeit des guten Beischlafs. Ari Lennox spricht in "Ari's Tale" von einem Verhältnis, das ihre Karriere hätte bedrohen können, wäre der Sex das nicht dreifach wert gewesen. Darauf folgen mit "Put It Down" und "On It" zwei fulminant unapologetische Horny-Anthems, aus denen der Höhenflug einer guten Liaison sich abzeichnet. Die Energie ist immens, gerade, wenn Lennox und Sullivan sich auf "On It" angelische Belting-Duelle liefern. Dieser Abschnitt klingt nach purer Lebensfreude, nach einem Gefühl von Macht und Potenz und wird vom nächsten Interlude nur ein bisschen, aber taktisch unterwandert.
"Donna's Tale" beobachtet eine Runde Frauen, die sich darüber lustig machen, wie gefügig sie ihre Männer schon immer damit machen konnten, den Sex strategisch einzusetzen. Im folgenden Song lässt sich Sullivan von einem stark aufgelegten Anderson .Paak unterstützen, wenn sie selbst davon in einen entspannten Welteroberer-Groove einstimmt. Der Song ist Neo-Jazzig, mit Anflügen in den Hip Hop und klingt im Feeling trotzdem nach klassischstem 90er-R'n'B. Und dabei spürt man: Je mehr für Sullivan die Sexualität in einen Pragmatismus umschlägt, tun sich Schatten auf, wie die darauffolgenden beiden Interludes ausführen. "Rashida's Tale" lässt eine Frau zu Wort kommen, die ihre Partnerin betrogen hat, "Precious' Tale" nimmt die Angst einer Frau zu Protokoll, die sich nicht mehr vorstellen kann, Männer ohne Geld zu daten.
Beiden Fällen folgen fantastische Songs, allen voran das reuevolle, akustische "Lost Ones", das pragmatisch die destruktive Wirkung von Lust in analoge Gitarren-Melancholie kleidet. Auf der anderen Seite steht der unterkühlte Song "Other Side", der auf Precious eingeht: Auch Sullivan öffnet hier ihre Gedanken, wie einfach es wäre, sich einfach einen reichen Rapper zu angeln, dem man dann fürs Leben die Arbeit überlassen kann. Darin vermengt sich ihre eigene Erinnerung an Armut, als wüsste sie selbst nicht, wie sie zu diesen Gedanken stehen sollte. Was ist sie wert, was ist ihr Sex wert? Vor allem – was passiert, wenn sich ihre sexuelle Wertigkeit und Materielles vermischen?
Diese letzte Frage des Selbstwertes stellt sich auch der letzte Interlude, "Amanda's Tale". Ganz konkret stellt die Frau sich die Frage: Kann man Selbst und Sexualität eigentlich trennen? Wofür kommen all diese Männer genau zu ihr zurück? Eine Idee, die im melancholischen Schluss-Duett mit H.E.R. aufgegriffen wird, eine erkaltete Liebe wird seziert und der zusammengebrochene Selbstwert-Scherbenhaufen aufgekehrt. Nach einer halben Stunde eindrucksvoller R'n'B-Harmonien hat nun auch der Hörer eine vielschichtige Reise durch die guten und schlechten Randbezirke der Sexualität unternommen.
Es beeindruckt, wie vielsagend "Heaux Tales" geraten ist, auf einer sprechenden Ebene, aber auch musikalisch. So vereint Sullivan konzeptuell doch die Stimmen so vieler Frauen aus ähnlichem Hintergrund. Dabei klingt sie durch die Bank zeitlos und musikalisch grandios, sie schafft es, im selben Song Artgenosse von Chloe X Halle und Lauryn Hill zu sein und sich jeden Song durch ihr bombastisches, harmonie-getragenes Singen anzueignen. Für ein so kurzes Projekt mündet das ambitionierte Konzept beeindruckend stimmig und die Grundidee findet sich beim erneuten Hören schon im ersten Interlude wieder. Denn schon "Antoinette's Tale" konkludiert mit der manifest-haftigen Zeile "we're out here telling them, that the pussy is theirs / When in actuality, it's ours".
1 Kommentar mit 2 Antworten
Ziemlich gutes Album. Das Genre an sich taugt mir ja irgendwie nie so sehr, wie ich es gern hätte, aber das lässt sich sehr gut hören. Wohl mit das Beste aus der Sparte, das ich in den letzten Jahren gehört hab. Auch schön abwechslungsreich.
Dieser "Männer müssen Geld verdienen"-Track reibt sich ein bisschen mit meinem Weltbild, aber wer bin ich, die Nöte von BWOC zu hinterfragen.
BWOC?
Black Women On Crack?