laut.de-Kritik
Liberté, egalité, fraternité - Portemonnaie!
Review von Alexander CordasDer Mann ist komplett durch den Wind. Höher, größer, weiter. Kein Superlativ bleibt dem Franzosen verschlossen, denn er scheint immer wieder aufs Neue gewillt, Besucherrekorde zu pulverisieren. Dabei veranstaltet er seine Auftritte nicht als popelige Live-Performances, sondern pumpt jedes seiner raren Konzerte mit einer derartigen Monstrosität zu einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk auf, das dem kleinen Musikhörer angst und bange sein muss bei derart gelagertem Größenwahn.
Zu den beiden Konzerten in Peking, die auf der vorliegenden DVD-Packung Berücksichtigung finden, strömten zwar keine Millionenmassen wie sonst üblich, aber darum geht es hier auch gar nicht. Was sich der anscheinend doch wieder etwas frischere Franzose zum Ziel gesetzt hat, ist schlicht und ergreifend ein Fall für den Staatsanwalt. Er möchte den Zuhörer/-schauer mit einem Sound töten, den die Welt noch nicht erlebt hat. Es bedarf schon einiger Tönchen, um den Rezensenten in Verzückung zu versetzen, aber was Jarre hier auf zwei DVDs zelebriert, ist kaum zu überbieten.
Die Satelliten-Boxen des Surroundsound-Systems mutieren somit zum Gefängnis für den audiophilen Genießer. Mit "Aero" deutete JMJ schon an, dass er für das Volk noch einige Gimmicks auf Lager hat, die er zu gegebener Zeit veröffentlicht, mit "Jarre In China" vollführt er sein Meisterstück. Der Titeltrack des letzten Albums eröffnet - nach einem pathetischen Orchesterstück - denn auch das eigentliche Konzert. Und schon bei den ersten Tönen verschlägt es einem fast den Atem. Obschon "Aero" in 5.1.-Sound existiert, die THX-Variante des Stücks walzt noch dominanter durch die Boxen. Zusammen mit der hochauflösenden Qualität des Bildes rundet die technische Seite der DVD ein Konzept ab, das in seiner Perfektion seinesgleichen sucht.
Die Opulenz des Auftrittes ist nicht überbordend, aufblasbare Strukturen wie Kugel, Kegel und Zylinder stellen einen beruhigend minimalistischen Kontrast zum symphonischen Charakter des Konzerts dar - mit Jarre in der zentralen Position als Knöpfchendreh-Diktator. Und das ganz unprätentiös im Schlabberpulli, Jeans und verwuschelten Haaren. Der Genuss des kompletten Auftritts in der verbotenen Stadt ist äußerst kurzweilig - selbst wenn man kein Jarre-Kenner ist und nur ab und an eine Melodie erkennt, die man schon einmal gehört zu haben glaubt. Zusatz-Features, wie die im Vorfeld entstandene Dokumentation, zeigen ihn und seinen Organisationsstab, wie sie mit den chinesischen Widrigkeiten des dortigen Behördensystems zu Rande kommen. Dass der Abend dennoch so über die Bühne ging, wie ihn die Bilder zeigen, grenzt unter diesen Umständen fast an ein Wunder.
Nachdem Jarre am Ende seines Auftrittes in der Verbotenen Stadt auf den Seitenkasten eines Motorrades steigt, begibt er sich zum zweiten Teil des Konzerts, der auf dem Platz Des Himmlischen Friedens stattfindet. So ganz unproblematisch ist das nicht, ist dies doch der Ort an dem 1989 die studentische Protestbewegung mit Panzergewalt im wahrsten Sinne des Wortes plattgemacht wurde. Der Protagonist selbst erklärt wiederholt, dass er dessen wohl gewahr ist und deshalb auch einige Sachen im Programm hat, um Zeichen zu setzen. So zum Beispiel der Auftritt einer Sängerin, die zur damaligen Zeit zu den Demonstranten gehörte und lange mit Auftrittsverboten zu kämpfen hatte. Jarres persönlicher Höhepunkt ist wohl die Deklamation von liberté, egalité und fraternité in chinesischer Sprache. Man muss wissen, dass genau diese drei Worte die Losung der chinesischen Demokratiebewegung in den Achtzigern waren. Leider dauert der Tian'Anmen-Teil lediglich fünf Songs und 22 Minuten lang. Dafür bekommt man im Abspann eine ganze Weile vorgeführt, welche Unternehmen am gesamten Projekt beteiligt waren. Also neben liberté, egalité und fraternité auch ein wenig Portemonnaie ...
Ab und an gewinnt die Theatralik etwas die Überhand, wenn Jarre auf kleinen Gongs oder Stahlröhren herum trommelt, die ganz offensichtlich nur auf der Bühne stehen, um den Eindruck zu erwecken, als ob sie Töne erzeugen könnten. Theremin und Laser-Harp hingegen funktionieren tatsächlich. Letztere gibt "Chronology 3" einen netten Touch. Etwas deplatziert wirkt jedoch das Vivaldi-Stück "Winter". Die E-Gitarre ersetzt die Fidel und stört die Stringenz der Stimmung etwas, die bis dato vorherrscht. Ganz abgesehen davon, dass Vivaldi "Die Vier Jahreszeiten" ähnlich wie "Carmina Burana" definitiv ausgelutschten Charakter besitzen.
Bei der Gegenüberstellung der Kritikpunkte zu den begeisternden Momenten ziehen die Negativaspekte aber bei weitem den Kürzeren. Die Sound-Verrücktheit des Jean Michel Jarre kulminiert in einem DVD-Paket, das für mehr als nur den kurzen Genuss gedacht ist. Sound, Bild und Stimmung bilden - trotz der kleinen Makel - eine beeindruckende Einheit. Fantastique!
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