laut.de-Kritik
Meditationen über das Anderssein.
Review von Toni HennigVor drei Jahren legte die Norwegerin Jenny Hval mit "Blood Bitch" ihr bis dato zugänglichstes Album vor. Der Platte lag ein loses Konzept über Vampire und Menstruationsblut zugrunde, das vom Film "Female Vampire" des B-Movie-Regisseurs Jess Franco inspiriert war. Trotzdem folgte sie auf dem Werk noch überwiegend ihren avantgardistischen Prinzipien. Die lässt sie mit "The Practice Of Love", benannt nach dem gleichnamigen Streifen von Valie Export, musikalisch nun hinter sich und befindet sich aus diesem Grunde endgültig mit beiden Beinen im Pop.
Irgendwann hat jemand zu ihr gesagt, dass es drei Themen gebe, über die ein Künstler niemals schreiben sollten, weil sie zu universell und zu klischeehaft wären, nämlich Liebe, Tod und der Ozean, so der Grundgedanke hinter der Platte. Diese greift sie auf mehrdeutige Weise auf. Zudem zeigt sie sich lyrisch so offen, aber auch so nachdenklich wie noch nie. Dabei geben die Dialoge, Rezitationen und die Stimmen ihrer drei Freundinnen, den Künstlerinnen und Musikerinnen Vivian Wang, Laura Jean Englert und Félicia Atkinson dem Werk etwas zutiefst Inniges und Intimes.
In "Lions" stellt Wang zunächst die Frage: "Look at these trees / Look at this grass / Look at those clouds / Look at them now... Study this and ask yourself: Where is god?" Dazu überlagern sich ihr Vortrag und Hvals ätherischer Gesang, während schleppende Trip Hop-Beats und rotierende Synthesizer ertönen, die ein Gefühl von großer Weite erzeugen. Sie mochte aber gerade den Gedanken, dass der Mensch gegenüber seiner Umgebung doch "sehr klein" anmutet, verriet Jenny dem Blog The Ringer. Daraus leitete sie Fragen über "Veränderung" und das "Älterwerden" ab. Schon auf den Vorgängern vernahm man, wie sie sich in einem bestimmten Teilabschnitt ihres Lebens fühlte.
Ihre Kindheit und Jugend spielt ebenfalls eine wichtige Rolle für dieses Werk. Sie wuchs nämlich im Süden Tvedestrands auf, dem Bibel-Gürtel Norwegens. Dort beschäftigte sie sich in den Neunzigern mit Indie- und Dream Pop-Bands wie Lush und Stereolab, die sie "lehrten" zu "singen", sagte sie 2010 dem Online-Magazin The Quietus. Weiterhin findet man, was das Naturverbundene und das Triebhafte in den Lyrics betrifft, natürlich auch Anspielungen auf die second Wave des Black Metals.
Während dieser Dekade entwickelte Hval auch eine Faszination für Trance. Gerade das "Element des Transzendentalen" fasziniert sie immer noch an der Musik. Zudem schlägt es sich deutlich in den Synthies nieder. Letzen Endes bilden weiche und meditative Klänge die Basis des Albums. Die haben zum Teil Jennys Lyrics sogar beeinflusst.
So weckt "High Alice", das Querverweise auf "Alice Im Wunderland" besitzt, Erinnerungen an die sanften Töne im Pop. Darüber hinaus schnappt die Norwegerin einige Klischees über weibliche Sexualität und die Rolle der Frau im künstlerischen Bereich auf. Gegenüber der Musikindustrie, die Frauen nicht als gleichwertig akzeptiert, betont sie als eigenständige Do-It-Yourself-Künstlerin ohnehin stets ihren Unmut.
In "Accident" geht es im Anschluss um Kinderlosigkeit, ein "universelles Thema", gibt sie außerdem zu verstehen. So simpel stellt es sich dann doch nicht dar, dass man es auf eine einzige Frage herunterbrechen kann: "Willst du oder willst du nicht?" Da spielen noch ganz andere Punkte hinein, die Hval mal in einem anderen Interview ansprach: "Was ist" unser "Job als Mitglied der menschlichen Rasse?" Haben wir diesen "zu akzeptieren", und falls wir es "nicht tun, wird der Druck jemals enden?"
Des Weiteren drückt sie zu sphärischer Elektronik und funkelnd hellen Synthies ein Gefühl von Scham aus: "She found stretch-mark cream in an Airbnb bathroom / It was just cream / Rubbing it on her belly / She felt nothing."
Im Titelstück, einer sakral anmutenden Sound-Collage, nimmt man schließlich zwei verschiedene Diskurse von kinderlosen Frauen in ihren späten Dreißigern wahr, die sich überlappen. Einen hört man im linken, einen im rechten Kanal. Im letztgenannten diskutieren Hval und Englert, wo sie sich in der Welt sehen.
Laura Jean sagt: "I have accept that I'm part of the human ecosystem but I'm not the princess and I'm not the main character. Because I feel like maybe the main characters are the people that have kids." "Maybe I'm the witch", schlussfolgert sie. Das geht tatsächlich noch einen Schritt weiter als "Accident", steht Liebe doch hier nun endgültig gleichbedeutend für das Anderssein.
Die vielen Fragen, die sich bis hierhin aufgetan haben, gießt man nun in eine konkretere Form. Das umfasst auch alternative Konzepte zwischenmenschlicher Beziehungen, frei von gesellschaftlichen Konventionen, die Jenny etwa in ihrem Debüt-Roman "Paradise Rot" von 2009, den es bisher nur in englischer und norwegischer Sprache gibt, vermittelt.
Für die steht sie auch dann noch ein, wenn sich dadurch eventuell ihr eigenes Grab schaufeln sollte. "Put two fingers on the earth / I am digging my own grave / In the honeypot / Ashes to ashes / Dust to dust", heißt es in "Ashes To Ashes", während euphorische Electro-Pop-Klänge sich kontinuierlich in immer luftigere Höhen aufschwingen, obwohl sie in dem Track auf einem noch nicht geschriebenen Song Bezug nimmt, der für eine Beerdigung eines nahe stehenden Menschen gedacht war. So eingängig wie hier klang sie noch nie.
In "Six Red Cannas" verbindet sich dann, nachdem in "Thumbsucker" das verteufelte Saxofon seine Wiederbelebung fand, ihr glockenklarer Gesang leichtfüßig mit den drei Stimmen ihrer gleichgesinnten Mitstreiterinnen Hier treffen sie sich zu einem Dialog über die Verortung des Kunst-Begriffs. Musikalisch folgt der Song, der auf einem psychedelischen Synthie-Fundament baut, ganz der Tradition des Electro-Sounds der späten Neunziger. Damit offenbart die Nummer schon so etwas wie Club-Tauglichkeit.
Zum Abschluss wagt sich die Norwegerin gemeinsam mit Wang und Atkinson in "Ordinary" aus der Abgeschiedenheit heraus. Ausgehend von himmlischen Chor-Gesängen und lichtdurchlässiger Elektronik schwebt das Stück nach und nach in immer majestätischere Dream Pop-Sphären. "Outside again, the chaos / And I wonder what is lost", lautet es gegen Ende. Kurz darauf steht die Erkenntnis: "We don't always get to choose, when we are close and when we are not." Liebe hat für Jenny Hval also nicht nur mit dem Zurücklassen bisheriger gesellschaftlicher Moralvorstellungen über dieses Thema zu tun, sondern auch mit verschiedenartigen Situationen und individuellen Lebensumständen.
Unterm Strich bleibt ihre zugleich entspannteste als auch tiefgründigste Platte, die zur richtigen Zeit die richtigen Fragen aufwirft und die aufgrund ihrer tranceartigen Atmosphäre dazu einlädt, selbst zu reflektieren, was dem Homo Sapiens in seiner Gesamtheit ausmacht und welche Funktion er losgelöst von irgendwelchen Erwartungen und kapitalistischen Zwängen auf diesem Planeten hat. Dennoch lässt es sich im vielschichtigen Sound genauso gut versinken. Letzten Endes eine logische Weiterentwicklung von "Blood Bitch", da sich die Enddreißigerin neuen Impulsen noch weiter öffnet.
2 Kommentare mit 4 Antworten
Genau meine Musik. Erinnert mich etwas an ihre Landsfrau Susanne Sundfor und deren ähnlich elektronisches Album "Ten Love Songs".
Gerade die erstes 3 Songs sind wunderbar; an das Gebrabbel im Titeltrack, das wie eine nervige politische Diskussion klingt, bei der alle wild durcheinander reden, muss ich mich aber erst noch gewöhnen. Momentan skippe ich das.
Aber dann "Ashes To Ashes" und "Six Red Cannas" erst. Finde die beiden Songs gerade am besten. Das Gebrabbel spielt auch wahrscheinlich mehr für den inhaltlichen, poetischen Kontext eine Rolle, der ja eng mit der Musik verbunden ist.
Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.
Und schön, dass nicht nur ich mich an der Musik erfreuen kann. Die Vorgänger sind vergleichsweise sperrig, aber "Blood Bitch" und "Meshes Of Voice" gefallen mir trotzdem nach wie vor sehr gut. Habe sie mit beiden Alben auch live gesehen.
Hab da noch Nachholbedarf, was ihre früheren Alben angeht. Meine Neugierde ist aber geweckt.
Das muss man sich erst einmal trauen, was hier gemacht wird. Das ist nicht nur Musik, sondern in Klang gegossene Selbsterkenntnis und der Dialog mit dem eigenen Ich. Verstehen kann man das nur, wenn man sich traut, das zu sehen, was Jenny Hval gesehen hat. Alleine das Cover ist eine Offenbarung. Und was die Musik angeht: Nur anhören geht da kaum, sonst bleibt einem dieses Album in jedem Fall unverständlich. Ich hätte nie gedacht , dass man den Blick des dritten Auges so präzise in Text und Klang fassen kann. Aber sie kann. Es rührt mich vom ersten bis zum letzen Lied und macht manchmal nur unfassbar traurig. Wahre Kunst, deren Bewertung, bzw. Validität aber immer auch natürlich extrem vom eigenen Standpunkt abhängt.