laut.de-Kritik
Das Chaos und die Ordnung.
Review von Julius StabenowGroßbritannien blickt auf eine lange und einzigartige musikalische Historie zurück. Einer der sich diese Vielfalt besonders zu Herzen genommen hat, ist Jeshi. Er tobt sich seit seiner ersten EP "Pussy Palace" von 2016 auf der gesamten Bandbreite der Sounds aus und versucht, seinen eigenen Style daraus zu entwickeln, anfangs noch sehr diffus und mit jedem Release immer konsequenter. Sein Debüt "Universal Credit" wurde von The Guardian 2022 als "an era-defining album" bezeichnet. Nun erscheint der Nachfolger "Airbag Woke Me Up", und der Rapper aus East-London scheint endlich eine Ordnung in seinem Chaos gefunden zu haben.
Neben dem konfusen Soundbild präsentierte "Universal Credit" inhaltlich vor allem einen überzeugten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit der Arbeiterklasse. Die Politisierung seiner Musik war allgegenwärtig. Das hat sich auf der neuen Platte geändert. Jeshi spricht sogar von einem Erwachen und einer Neuausrichtung. Ein Gefühl, das er auch bei dem titelgebenden Autounfall hatte, als er als junger Erwachsener hinterm Steuer einschläft und nur der Airbag Schlimmeres verhindert. "Airbag Woke Me Up" präsentiert einen vielschichtigen Künstler, der das Chaos in seiner Musik gemeistert hat, obwohl es noch in jeder Minute der Songs vorhanden ist.
Nicht viele schaffen es, ein stilistisch so durchmischtes Album so einheitlich klingen zu lassen. Das könnte am fast schon avantgardistischen Ansatz liegen, den der Londoner für sich etabliert hat. Er ignoriert jegliche Konventionen und macht daraus seinen eigenen Stil, was die Titel schlussendlich zusammenhält. Auf jedem Tune passt er sich dem Instrumental an, variiert seinen Flow extrem und zeigt einen sehr variablen Stimmeinsatz. Trotzdem fügt sich alles ineinander. Vielleicht liegt es an der allgemein krawalligen Stimmung, vielleicht findet sich aber auch ein ganz anderer Grund, Fakt ist: Wenn das Album zu Ende ist, fühlt man sich bestens unterhalten, es wurde nie langweilig und es entsteht trotzdem kein Compilation-Charakter.
Schon der Start "Bad Parts Are My Favourite" gerät brachial und macht den Vibe der nächsten fast 40 Minuten klar. Jeshi rappt eindringlich auf ein düster ballerndes Drum'N'Bass-Brett. Ähnlich klinisch und hektisch klingt das folgende "Scumbag". Diese Stimmung zieht sich durch die weiteren Songs, auch wenn es auf "Hurricane" mit Sängerin Leilah erstmal ruhiger wird, die kalte Stimmung bleibt gleich.
"Alone Tonight" bringt es dann im Titel und Sound auf den Punkt. Hier ist jemand mit großer Experimentierfreude am Werk, es treffen wilde elektronische Sounds auf verstimmte Piano Melodien, Offbeat Rhythmen und schiefem Gesang in der Hook. Was klingt wie ein Albtraum, scheint tatsächlich durchweg so gewollt und macht den verrückten Charakter Jeshis aus.
Ähnlich wie diese ersten fünf Anspielstationen (inkl. des Skits "You Snooze You Loose") verhält sich dann auch der Rest des Albums. Jeder Song hält mindestens eine Überraschung bereit, und sei es nur der Minimalismus auf dem dennoch sehr rough produzierten "Love Songs". Der Rest überzeugt mit unerwarteten Samples, verzerrten Stimmen, übersteuerten Electro-Sounds und vielem mehr.
Einzig der gitarrenlastige und nachdenkliche Closer "Over You" sowie vor allem das soulige "Stuck On Loop" brechen dank ihrer warmen Instrumentierung, der sanften Hook und den introspektiven Lyrics mit dem Konzept. Das wird aber im Song "Disconnect!", das wirklich aus allen Rohren feuert, direkt wieder eingefangen: Jeshi hetzt über den sich überschlagenden Beat, in dem alles auf einmal passiert und der das geordnete Chaos zum Ende des Albums nochmal auf seinen letzten Höhepunkt treibt.
Wer mit seinem Debüt für einige Kritiker eine ganz Ära geprägt hat, auf dem lastet viel Druck für den Nachfolger. Jeshi macht sich komplett frei von den Erwartungshaltungen und kreiert daraus eine Platte, die den Zuhörenden viel abverlangt, die in seiner Vielfältigkeit aber auch wahnsinnig Spaß macht, wenn man sich einmal drauf eingelassen hat.
2 Kommentare
Absolut nicht fad!
Bei UK-Rappern denke ich mir immer: Musikalisch geil, aber wie wärs, wenn ihr jetzt noch prägnant drauf rappen würdet, statt eure Stimme irgendwo mitten in den Sound mischen zu lassen.