laut.de-Kritik
Clash aus Tropen-Electro, Trap, R'n'B, Rap, Folk und Jazzpop.
Review von Philipp KauseDass Jessie Reyez, aufs erste Hinhören beurteilt, eher nicht besser singen kann als jeder von uns unter der Dusche, sondern mehr spricht, krächzt, trötet, quäkt, kokett maunzt und Töne haucht, stört kaum. "Before Love Came To Kill Us" verdiente einen Grammy für den Plattentitel und im Übrigen auch den für Worldmusic, R'n'B, Latin Urban/Alternative, Newcomer, Dance/Electronic und, für das quirlig-überdrehte "Dope", denjenigen für den 'Song of the Year'.
Jessies Stimme langweilt niemals. Ganz dicht am Ohr klebt sie, über allem entstehen der gleiche Slow-Mo-Eindruck und eine ähnliche Sinnlichkeit wie bei Lana Del Rey. Zudem rückt Jessie beim Hören sehr nahe, bleibt in Erinnerung. Ein gewisses Maß an Absicht ist ihrer seltsamen Intonation zu unterstellen, denn am Ende des Songs "Coffin' (ft. Eminem)" beweist sie: Sie kann auch engelsgleich singen, souverän, sanft, kontrolliert und klar.
Vor allem ist die Stimme nuancenreich. Außer Wut und Entrüstung wie bei vergleichbaren Rebellinnen wie Nova Twins und Rina Sawayama ist da noch viel mehr im Spiel: Melancholie, quietschiger Frohsinn, und - Entschuldigung bei allen Gender-Vorkämpfer*innen - klassische Konstellationen in der heterosexuellen Paarbeziehung. Warum auch nicht? Es muss auch 2020 nicht immer nur das gut sein, was aggressiv-queer, empowernd und body-positive ist. Dafür marschierte Jessie, nebenbei bemerkt, der #metoo-Bewegung schon voraus, als Asia Argento noch busy damit war, einen Pubertierenden zu verführen. Spielt für die Musik keine Rolle, sei aber allen gesagt, die diese Information brauchen, um der Platte eine Chance zu geben.
Das Album startet mit sehr viel, beinahe zu viel Stimme und billigen, trashigen, blechernen Trap-Beats. Das Geschepper, dessen Kultstatus mir noch niemand erklären konnte, passte noch nirgendwo so gut wie hier in "Do You Love Her". Außer bei Rico Nastys "Anger Management", auf der Deluxe-Version der CD übrigens ein Feature-Gast bei Jessie. Die geschmacklosen Schepperschläge und der hormonell übersteuert wirkende Gesang passen so gut zusammen, weil das eine Element das andere zähmt und zügelt.
"Kiss me / I'm the monster / that you've made me", fordert die 28-jährige Sängerin in der Lolita-Manier einer 17-Jährigen. Aber gut, das Ganze hat Action und hört sich ungemein eingängig an. Danach wird die Platte erstens erwachsener und zweitens wilder, abgefahren. Reyez clasht elektronische Substile Lateinamerikas durcheinander, trumpft mit Rap-Einlagen auf und beruhigt sich nach einem weiteren scheppernden Trap ("Roof") allmählich in eine softe, dezent jazzige-Pop-Phase mit wohlig-sphärischen Synth-Sounds oder auch mal einer Streicher- und Piano-Ballade, "Love In The Dark". Professionell, wie Reyez drauf ist, beherrscht sie auch diesen Stil, wie jeden hier.
Aufgrund vieler Rhythmuswechsel und Soundfarben, auch wegen des Wechsels zwischen Englisch und Spanisch ("La Memoria" und einzelne Sprachbröckchen hier und da) sowie zwischen sanften, tanzbaren und sehr zeitgemäß-trappigen Abschnitten bekommt das Album starken Freestyle-Charakter. R'n'B-Folk taucht in "Intruders", "Same Side" und "Figures" auf, die sie als drei Ankerpunkte über das Album verteilt auswirft. Diese binden alles zusammen. Es wäre trotzdem ganz falsch, das Album als Soulplatte zu schubladisieren, was durchaus schon vorkam. Musikanalytisch und szenekulturell gibt es dafür nur kaum Anhaltspunkte.
Die grundsätzliche Verortung in Blue Notes gibt es aber stellenweise. Die elektronifizierten Töne fügen dann alles zu einem schlüssigen Album zusammen. "Before Love Came To Us" frappiert, fordert Hörgewohnheiten heraus und endet nach 47 Minuten zu früh, obwohl der Input sogar erschlagen kann, je nach Situation und Konzentration. Es gibt keine Filler, auch die Deluxe-Version mit Bonus-Tracks macht Spaß.
Auf der Detail-Ebene prallen eine ganze Reihe einmaliger Kunstgriffe aufeinander: die Scratcheffekte, Eminems routinierter Rap und Glassplitter-Noise in "Coffin", ein bisschen Unplugged-Zartheit in "Figures". Dagegen bummern die wabbeligen Zitate aus Moombahton, Afrobeats und alternativer Underground-Elektronik Kubas, aufgeladen mit der sexuellen Energie von Baile-Funk, durch das fröhliche "Dope".
In "Deaf (Who Are You)" zieht die kauzige Stimme wütend über die Ex-Freunde her und raunt: "Colombia in my blood", während die Musik als Electro-Cumbia-Clash-Trash-Pop brodelt. Wenig, nämlich Stimme, Schlagzeug, gezupfter Bass und Background-Chor, reicht im intim-kontemplativen "Intruders". Andererseits röhrt Jessie aus vollem Halse ("La Memoria"), während der Titelsong "Kill Us" als angenehm aggressionsfreie Hymne zum Mitsingen einlädt.
"I Do" dürfte gleichwohl trotz aller Vielfalt dann jener Sorte R'n'B entsprechen, auf die man solche Künstlerinnen in den Filterpositionen der Popkultur gerne reduzieren würde, um sich nur ja nicht daran zu gewöhnen, dass neue Informationen ins Gehirn strömen und die mehrheitsbildenden Machtsysteme der Gesellschaft durchbrechen. Junge Frauen haben ja quasi niedlichen R'n'B und nur das zu machen, so scheint es manchmal.
Dabei war Reyez schon lange vor ihrem Debütalbum gerne gesehener Gast in amerikanischen Hip Hop-Radioshows und Morgenmagazinen: Mit ihr kann man über alles reden, sie antwortet substanziell, interessiert sich nicht fürs platte Anpreisen ihrer Platte und geht recht offen mit dem um, das ihr im Kopf herumspukt. Das spiegelt sich in diesem extrem expressiven Album.
Das ist unbequem und auch schwer konzentriert zu hören, wenn man einen inneren Widerstand mitbringt. Klingt platt, aber: Diese Musik dringt nur in offene Ohren ein, weil sich diese Art Rebellentum nicht aufdrängt. Dazu ist Jessie zu selbstbewusst. Sie macht keine Zeitgeist-Späße, für die sie sich in fünf Jahren schämen müsste, nur um heute Aufmerksamkeit bekommen zu haben.
Jessie Reyez ist nicht Teil des Koordinatensystems der 'weißen' Musikwelt. Sie ist alternativ und elektronisch unterwegs, obwohl sie so nicht vermarktet wird. Sie gehört jedoch nicht zur 'Black' Music Culture, und auch wenn sie aus beiden kulturellen Systemen ihre Zitate nimmt, bleibt sie die Tochter von Einwanderern aus Lateinamerika, denen ein Jahrzehnt lang offizielle Papiere verwehrt wurden und die sich irgendwie durchschlugen.
Jessie, die unmotivierte Schülerin, die sich mit 18 regelmäßig betrank. Jessie, eine Aufmüpfige, deren Gestus manchen wie den Kollegen vom Musikexpress eben als "Quengelgesang" nervt. Das Magazin Pitchfork nennt Jessie derweil lobend "radioaktiv wütend", beide sprechen aber über dasselbe Phänomen. Insoweit spaltet die Sängerin die Fachwelt. Ihre frische Brise ist willkommen
Bevor nun wieder die Diskussion losgeht, wie viele Songwriter sich in den Credits verewigt haben: viele. Aber das ist hier ganz egal. "Before Love Came To Kill Us" ist ein kreatives Ergebnis dieser Arbeit. Brüche in Songs, Fremdkörper oder Kontraste, ganz wie man will: "Before Love Came To Kill Us" enthält maximal viele Reibungsflächen in einem glatten, melodiegefluteten Rahmen.
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