laut.de-Kritik
Mit der Magie des durch und durch Gefühlten.
Review von Philipp KauseWenn wir die Augen schließen und vergessen, wie der Name der Künstlerin lautet (Joy Denalane), handelt es sich wahrscheinlich um eine Platte aus Philadelphia, New York oder Miami. Wieder jemand, den Alicia Keys entdeckt hat, so wie H.E.R.? "Happy ft. Ghostface Killah" hat diesen Choral-Groove von "Empire State Of Mind" mit Alicia und Jay-Z. Die Musik könnte älter sein, etwa aus den 1970ern in "Can't We Smile" und aus der Philly Soul-Ecke, mit Plüsch und Pling-Pling. Lehnt sich an Teddy Pendergrass und andere sportlich Verschmuste an. "Hideaway" setzt alte Traditionen von Marlena Shaw bis Roy Ayers richtig cool fort. 80er-Keyboard-Electrosoul blitzt in "Fly By" auf, "step forward, two steps back" tänzelnd und fliegend, nicht ohne Vorbilder wie Patrice Rushen. Einer Soundtrack-Produktion für eine Romanze in den 90ern könnte "Revolutions" entstammen, jedenfalls rein musikalisch betrachtet. Aber Joy Denalanes Album "Willpower" setzt sich aus lauter neuen Stücken zusammen, und es streift jeden Hinweis auf eine deutsche Herkunft ab.
"All Of Me" vollbringt das große Kino eines Soul-Stücks der guten alten Zeit, als Plattenfirmen an Produkte glaubten, sechs- oder siebenstellige Budgets vorschossen. Es ist genau diese Art von Soulmusik, die Joy in einem Interview mit der Kinderseite "Dein Spiegel" 2020 beschrieb: "Soul geht von einem Herzen zum anderen. Wenn Sänger und Sängerinnen ihr Herz öffnen (...). Dann berührt es, und man bekommt eine Gänsehaut." Was musiktechnisch auf "Let Yourself Be Loved" Motown war, das inszeniert Denalane jetzt mit links, etwa wenn sich im Titelsong starke Resonanzbässe, ein wippender, aber geerdeter Rhythmus sowie eine eingängige und oft wiederholte Chor-Zeile zum Öffnen des Herzens gesellen, "who I am is who I am is who I am".
Worin "Willpower" zugleich eine Steigerung wagt: Das Album überstrahlt den Vorgänger mit der Magie des durch und durch Gefühlten. Und Joy mischt leichte und schwere Themen. So verleiht sie den Problem-Behandlungen stärkeres Gewicht, als wenn alles vergrübelt wäre. Umgekehrt erhalten die fluffigeren Nummer ein bisschen mehr Relevanz und Tiefe. Diese Melange führt zu einem verblüffend runden Longplayer, der keinen Moment Langeweile kennt. "Willpower" glänzt nicht nur als schönes, jetzt stellenweise in "Far Cry" mit Holzbläser-Trillern angejazztes Album, sondern auch als spannendes.
Trotz der Single "Happy" umfasst das Album also dunkle Seiten des Lebens. Oder nein, nicht trotz - mit ihr! Darin geht's um Verlust und Schmerz, "pain is something everybody feels", um den Zyklus des Lebens, einschließlich des Todes naher Angehöriger. Gemischte Gefühle kommen bei Joy auf, wenn sie sich von ihrem verstorbenen Vater verabschiedet. Die zweite Version "Happy ft. Ghostface Killah" wühlt seitens des Wu-Tang-Gastes kehlige, wehmütige und dramatisiert vorgetragene Kindheitserinnerungen mit Kehlkopf-Salto auf, die sich wie eine vertonte innere Stimme des jungen Mädchens Joy darstellen und die erwachsene Frau kommentieren. Sechs Kinder, wie sie damals in Parks gespielt haben, hat er vor Augen, findet: "I'm still Daddy's little girl". Rappt er. Das Lied will überraschen, reflektiert "Ich musste einen anderen Teil von dir sehen, nicht den 'Helden'-Vater, den ich kannte" und mündet ins verblüffende Resümée: "I'm happy for the loss."
Nachdem bereits das Video dazu Johannesburg zeigt, erzählt "Hideaway" eine beschwingte Story der Migration zwischen zwei Orten, ohne sich von dem einen je wirklich lösen zu können und ohne dass der andere je über den Status eines Verstecks hinaus käme. Der Track führt die Fraktion der easy-going-Tunes hier zwar an. Inhaltlich platziert er aber die Steilvorlage fürs ernsteste Lied. Denn die Berlinerin dringt tiefer nach Südafrika und seine Ex-Enklave Soweto ein. "Warum können wir nicht lächeln?", fragt "Soweto" und setzt die Geschichte "Im Ghetto von Soweto (Auntie's House) ft. Hugh Masekela" aus dem Debüt "Mamani" fort, auf einem jazzigen Kontrabass-Becken-Hi-Hat-Dialog, mit Tim Lefebvre aus Bowies Band. "Ich bekomme keinen Schlaf / fange an zu weinen / denn ich verliere mich. / Ich wecke jeden Morgen die Sonne auf / denn sie ist die einzige, die weiß, wie ich glühe. / Soweto kriecht auf meiner Haut, eine Schönheit, die keiner erfassen kann (...) Soweto kriecht auf meiner Haut, und ich spiele meine kleinste Geige." Denalane erzählt das alles auf Englisch. In einer klaren, aber satten Wortwahl ("kriechen, glühen").
In ein paar Jahren wird man den Release als starken Meilenstein wertschätzen. Mancher mag mosern, dass etwa "Good Times Better" den guten Flow mitten auf halber Strecke bremse oder die Platte doch jegliche Innovation vermissen lasse. Mag sein. Andererseits: Das rhythmische Gespür in "Far Cry" oder der Gesang, der in "By Heart" locker zwischen geschmirgelt, zart, japsend, leidenschaftlich, crémig, Sopran, engelsgleich, verführerisch und verträumt schwingt - versetzen diese Aufführungen geballten Könnens nicht doch genug in Staunen? Um einmal zu sagen: Geile Platte!
4 Kommentare mit 4 Antworten
Glücklicherweise kein Feature mit Max Herre
Pünktlich zum 50. des lautuser, scheint ein persönliches Geschenk von GÖTTIN Joy zu sein, ma sagen.
Starke Frau! Schön, dass sie jetzt in ihrer Muttersprache singt.
Soll das witzig oder nur rassistisch sein?
Wahrscheinlich eher Unwissenheit. Google war zu weit weg.
Wahrscheinlich ihr bestes Album bisher. Den Titeltrack kann man sich auch von Michael Jackson oder Jamiroquai gesungen vorstellen.
Ups, ich meinte nicht den Titeltrack, sondern „Hideaway“