laut.de-Kritik
Die Gastsängerin von Silly fischt in Deutschpop-Gewässern.
Review von Toni HennigJulia Neigel landete als Sängerin der Jule Neigel Band mit "Schatten An Der Wand" 1988 einen Top 30-Hit. Für den griff sie auf die altdeutsche Sprache zurück. Nun erscheint mit "Ehrensache" ihr erstes Album seit neun langen Jahren. Darauf befinden sich elf Songs aus ihrer eigenen Feder sowie drei kompositorische Kooperationen mit beispielsweise Martin Tingvall.
Für das sanfte Wiegenlied "Schlafe Wohl" wählte sie erneut die altdeutsche Sprache. Es rundet die Platte mit walzerhaften Klängen gelungen ab. Von ihrer ruppigen Seite präsentiert sich Julia Neigel in "Blauer Ritter", wenn sie zu elektronischen Beats und verzerrten Gitarren eine im Karneval von Venedig angesiedelte Geschichte zum Besten gibt und gleichzeitig gesellschaftskritische Töne anschlägt. Musikalisch lässt das sogar ein wenig an Linkin Park denken. Weitaus souligere Klänge vernimmt man demgegenüber in "Der Kleine Prinz", wenn der raue Charakter der kraftvollen, mehr als drei Oktaven umfassenden Stimme der Ludwigshafenerin hervorragend zur Geltung kommt. Mehr solcher Ausreißer hätten dem Album durchaus gut getan.
Ansonsten fischt die Gastsängerin von Silly aber in belanglosen Deutsch-Pop-Gewässern. Zumindest fügen die Rock-Gitarre von Jörg Dudys, mit dem sie das Werk auch produzierte, und drei Schlagzeuger der Musik noch etwas Handgemachtes hinzu. Sonst könnte man sich vor Leblosigkeit kaum noch retten, da songwriterisch ohnehin alles auf einen eingängigen Refrain hinauszielt, der formelhafter kaum sein könnte.
Das wäre nicht ganz so schlimm, wenn man nicht permanent irgendwelchen Kalenderblattweisheiten aus dem nächstbesten Eso-Ratgeber aus der Ramschabteilung begegnen würde. Denen kann man vor allem in der ersten Hälfte überhaupt nicht entkommen.
Schon im Opener "Hoffnung" hört man nichtssagende Allerwelts-Zeilen wie "Wir sind in die Welt geboren zum Glücklichsein" oder "die Hoffnung lebt in uns". Zudem machen eingestreute Elektronik-Effekte einen Song noch längst nicht experimentell. "Der Himmel Lacht" handelt davon, nicht den Optimismus zu verlieren und sich auf den Augenblick zu besinnen. Im anschließenden "Geh Deinen Weg" steckt die Message dann schon im Songtitel. Letzten Endes fordert dieses Album nicht unbedingt die grauen Zellen.
Zum eigenständigen Denken fordert Julia Neigel ja ohnehin nicht auf, wenn sie in "Im Namen Der Nation" politische Missstände anprangert. Schuld an der ganzen Misere auf diesem Planeten haben nämlich laut ihrer Ansicht vor allem die westliche Waffenlobbyindustrie und das kapitalistische System an sich, dem es sowieso nur um Öl und Gas, um Ausbeutung fremder Länder und um territoriale Ansprüche geht.
Nur dampft die 54-jährige komplexe politische Zusammenhänge auf Stammtischniveau ein. Und das von einer Frau, die es wegen ihres außerordentlichen sozialen Engagements und ihres Einsatzes gegen Rassismus eigentlich besser wissen müsste. "Es kotzt mich an" heißt es gleich zu Beginn. Dem kann man als kritischer Hörer angesichts so viel unreflektierter Schwarz-Weiß-Malerei nach dem Motto "das wird man ja noch sagen dürfen" nur noch beipflichten. Geht es noch unsubtiler?
Der Rest gestaltet sich unpolitischer. So zeigt sich die 54-jährige in "Es Ist Besser" von ihrer dauerverliebten Seite. Immerhin lockern Bläser-Einschübe und soulige Background-Chöre das midtempolastige Deutschpop-Fundament um hörbare Facetten auf. "Engel" thematisiert die Liebe auf den ersten Blick, bietet aber lyrisch nicht mehr als Schlager-Sentimentalitäten, für die sich eine Juliane Werding geschämt hätte. "Unser Tag" tischt dem Hörer wieder die selben Kalenderblattweisheiten wie zu Beginn auf.
Dass es textlich auch anders geht, beweist die Sängerin, Songwriterin und Produzentin in "Tief In Meiner Seele", wenn sie zu rockiger Gitarre und dramatischen Piano-Tupfern von Selbstzweifeln und Verletzlichkeit, aber auch von innerer Stärke singt. Mehr Intimität hätte man sich auf jeden Fall gewünscht.
Jedenfalls versteift sich Julia Neigel auf "Ehrensache" zu sehr darauf, es allen Recht machen zu wollen, wodurch sie ihre Individualität größtenteils aufgibt. Den biertrinkenden Stammtischwähler holt die Platte genauso ab wie den durchschnittlichen Tim Bendzko und Mark Forster-Fan. Die Welt hätte sich auch ohne dieses Album sicherlich von ganz alleine weitergedreht.
1 Kommentar mit 3 Antworten
Was bitte ist denn "altdeutsch" bei "Schatten an der Wand"?
Vielleicht sowas wie "zergehn" und "untergehn". Es steht aber tatsächlich so auf ihrer Homepage.
Danke für die Info!
Seltsam. Da würde ich "althochdeutsch" erwarten. Macht für mich keinen Sinn. Muss es aber auch nicht...
Biertrinkende Stammtischwähler hören eher Onkelz oder Helene. Bendzko und Forster hören die Formatradiofraktion und Kinder.