laut.de-Kritik

Jazz with Attitude.

Review von

Jazz riecht nicht nur komisch, er ist tot. Zumindest wenn es nach dem Nielsen Music Report des Jahres 2014 geht. Dort rangiert das Genre noch hinter Klassik und Kinderliedern auf dem letzten Platz und erreicht in Amerika gerade einmal einen Marktanteil von 1,4 Prozent. Tendenz sinkend.

Doch die lebenden Toten begehren auf. Schickst du uns über den Jordan, spucken wir dir trotzig ins Gesicht. Aufsässig und mit neuem Selbstbewusstsein gepaart reißen immer mehr junge Künstler dem Rotwein nippenden Onkel in seinen Plüschpantoffeln den Jazz aus der Hand. Mit Flying Lotus "You're Dead" und Kendrick Lamars "To Pimp A Butterfly" zeigen sich zwei der spannendsten Werke der letzten Monate deutlich vom Jazz geküsst, heben diesen auf ein neues Level.

Nun folgt auf Steven Ellisons Brainfeeder Label der Erstling von Kamasi Washington, dessen Tenorsaxophon und Arrangements bereits eben diese beiden Alben veredelten. Mit "The Epic" gebiert er ein drei CDs umfassendes Jazz-Monster von 174 Minuten Spieldauer, das allein schon aufgrund seiner zügellosen Komplexität und Länge unbezähmbar erscheint.

Anstatt wie zuletzt üblich das Genre an den Zeitgeist zu koppeln und mit der Anbiederung an aktuelle Sperenzchen zu zersetzen, erhebt Washington den Jazz selbst zum Zeitgeist. In der Tradition verwurzelt, schafft er allein schon mit seinem kompromisslosen Auftreten eine Verbindung zur Gegenwart. Sich selbst und sein Debüt für episch zu erklären, darin steckt viel Selbstbewusstsein. Man könnte es auch Großspurigkeit nennen. Oder einfach nur Hip Hop: Jazz with Attitude.

Die siebzehn abwechslungsreichen Tracks, von denen Washington dreizehn selbst komponiert und arrangiert hat, führen von der aufbrausenden Jazz-Eruption über meditative Balladen zu neu interpretierten Standards. Melodramatische Chöre durchdringen die nahezu unendliche Weite, die Platz für endlose Improvisationen bietet. Inspiriert von John Coltrane, Miles Davis, Sun Ra, Charlie Parker, Charles Mingus und Pharoah Sanders verflechten sich die Einflüsse aus spirituellem Soul, rauem Funk, Fusion, Gospel und Bebop mit lateinamerikanischen Rhythmen.

Washingtons Spiel orientiert sich an Coltrane, fügt die Rauheit eines Albert Ayler und Pharoah Sanders hinzu. Er steckt sich selbst die höchsten Ziele, erreicht aber noch nicht die Brillanz und Individualität seiner Idole. Jedoch kennt er seine Einflüsse, weiß, wohin er möchte, und gleicht dies mit getriebener Spielfreude aus. Mit den virtuosen The Next Step aka The West Coast Get Down steht ihm eine zehn Mitglieder starke Band, unter anderem mit Ronald Bruner Jr. und Tony Austin am Schlagzeug, den beiden Bassisten Stephen "Tundercat" Brunder und Miles Mosley, Brandon Coleman (Keyboard), Cameron Graves (Piano), Ryan Porter (Posaune) und der Sängerin Patrice Quinn, zur Seite. Ein 32-köpfiges Orchester und ein von Miguel Atwood-Ferguson geleiteter Chor flankieren diese Crew.

Ein an Coltranes "A Love Supreme" gemahnendes Piano eröffnet den Opener "Change Of The Guard". Überbordende Streicher und ein Chor, dessen Theatralik an das Theremin aus "Star Trek" erinnert, fordern das in seinem Wesen vertraute Klangbild heraus. Gemeinsam erschaffen sie ein cineastisches Setting. Einen Ausgangspunkt, von dem aus die Hauptakteure ihre eigenen Abenteuer bestreiten und sich manch unerwarteter Wendung und dramatischer Situation stellen. Nur, um zum Finale wieder zueinander zu finden.

Das brodelnde "Re Run Home", in dessen tiefdunklem Funk die Energie eines Miles Davis und der Voodoo eines Fela Kuti wohnen, steigert sich über vierzehn Minuten zum rhythmusgeladenen Highlight der Platte. Ein weniger körperlicher, sondern vielmehr spiritueller Funk aus wirbelnden Schlagzeugsalven und einem drohendem Bass bildet die Basis für "The Magnificent 7". Ein abgedrehtes Stück Musik, mit deutlicher Sun Ra-Schlagseite, das uns mit spielerischer Leichtigkeit von diesem unserem Planeten schnipst.

"Miss Understanding" explodiert vor Spielfreude. Wilde Soli von Washington und Igmar Thoam an der Trompete, ein brillanter Kontrabass und der extravagante Chor verbinden sich zu einem berauschenden Post-Bop. Sobald man sich jedoch dem Trugschluss hingibt, den Wahn, der hinter "The Epic" steckt, verstanden zu haben, biegt der Longplayer in die entgegengesetzte Richtung ab. Wie im warmherzigen, vor Soul strotzenden "The Rythmn Changes" bringt uns Quinns anschmiegsame Stimme immer wieder unerwartet auf die Erde zurück. "Change we need, so we can see / Our love, our beauty, our genius / Our work, our triumph, our glory / Won't worry what happened before me / I'm here."

Jede der einzelnen drei "The Epic"-CDs gibt für sich genommen ein exzellentes Debüt ab. Gemeinsam fickt das Trio Gehirne. Trotz der langen Spielzeit, der vielen Variationen finden sich keine Hänger. Niemals verliert das furchtlose Album seinen Fokus. Mit viel Spektakel, aber auch ehrlicher Zuneigung holt uns Kamasi Washington aus dem Museum heraus und lässt uns wieder auf der Straße tanzen. Mit seiner Attitüde führt er junge Hörer an das Genre heran und erinnert uns an eine einfach Tatsache: Jazz braucht kein Mensch, aber Mensch braucht Jazz.

Trackliste

The Epic Vol.1: The Plan

  1. 1. Change Of The Guard
  2. 2. Askim
  3. 3. Isabelle
  4. 4. Final Thought
  5. 5. The Next Step
  6. 6. The Rhythm Changes

The Epic Vol.2: The Glorious Tale

  1. 1. Miss Understanding
  2. 2. Leroy And Lanisha
  3. 3. Re Run
  4. 4. Seven Prayers
  5. 5. Henrietta Our Hero
  6. 6. The Magnificent 7

The Epic Vol.3: The Historic Repetition

  1. 1. Re Run Home
  2. 2. Cherokee
  3. 3. Clair De Lune
  4. 4. Malcolm's Theme
  5. 5. The Message

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LAUT.DE-PORTRÄT Kamasi Washington

Wer sich mit gestandenen Jazz-Individualisten beschäftigt, stolpert irgendwann zwangsläufig über den Namen Kamasi Washington. Der begnadete Tenorsaxophonist …

9 Kommentare mit 11 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    Morgen, Sven. Im Großen und Ganzen bin ich mit deiner Review schon sehr zufrieden. Ich hätte da nur 2 Punkte:

    1. Inspiriert klingt mir in dem Kontext etwas zu weit. Washington scheint sich hier in seinem Spiel an gar nichts zu orientieren. Das klingt an vielen Stellen noch etwas strukturlos. Er agiert hier noch eher mittelmäßig vom Spiel. Für mich die Schwäche des Albums.

    2. Die Rhythmussektion hat was. Gerade das Orgel- und Kontrabassspiel hebt für mich das Album über den Durchschnitt. Sie ist für mich das eigentlich Antreibende des Albums.

    So oder so ein überdurchschnittliches Jazzalbum. Washington muss auf jeden Fall noch an seinem Spiel arbeiten. Der Klang ist gut. Auf gut 3 Stunden ist das Ganze noch etwas anstrengend, aber gute Ansätze, vor allem rhythmisch, sind da.

    • Vor 9 Jahren

      Von der Rhythmussektion her erinnert mich das Album relativ oft an das Livealbum Pangea von Miles Davis.

    • Vor 9 Jahren

      Mit Tonis Position kann ich gut leben - "über den Durchschnitt" würde ich jetzt nicht sagen, aber was die Rhythmussektion und Washingtons Spiel betrifft, könnte ich das unterschreiben.

      Bei Washington habe ich oft den Eindruck, er weiß nicht, was er als Nächstes spielen soll. Vielleicht hätte er seine Soli schreiben sollen (was für Jazz allerdings ein ziemlich vernichtendes Urteil ist, aber das Ergebnis wäre dann immerhin brauchbarer).

      Den "Pangaea"-Vergleich von Satanic (Grüße an dieser Stelle!) kann ich jetzt nicht nachvollziehen. Aber er reduziert das ja auch auf die Rhythmusgruppe, sonst haben die beiden Alben imo nichts voneinander. Muss ich wohl mal im Vergleich hören.

  • Vor 9 Jahren

    Habe es bisher erst einmal komplett angehört, aber klingt auf jeden Fall spannend. Mal schauen, wie sich die Platte über das Jahr verteilt halten wird.

    Und wenn er hier schon mal erwähnt wird: Wie wäre es eigentlich mal mit einem Meilenstein für Sun Ra? ;)

  • Vor 9 Jahren

    Für mich ist das Album eine riesige Schrotladung. Es hat seine echten Perlen neben ziemlich unbeeindruckenden Stücken. Episch ist nicht immer gleichbedeutend mit überladenen/überlangen Kompositionen, das läuft gefährlich oft in die 'Habe Orchester/Chor - muss nutzen' Falle und führt dazu, dass Washington viele Ideen zu lange ausführt.

    Das Album finde ich immer dann wirklich brillant, wenn Washington die Kompositionen reduziert, wie bei 'Cherokee' oder meinem Liebling 'Leroy and Lanisha'.

    So oder so ganz spannend, die Superlativen scheinen mir allerdings vor allem aus dem Wunsch nach einer Jazz-Wiedergeburt zu entspringen; dafür hat Washington noch zu viele Schwächen in Komposition und Spiel. 3.5/5.

  • Vor 9 Jahren

    Ach so: In Washingtons Spiel kann ich weder Coltrane noch Ayler noch Sanders hören. Seine Licks sind eher viel neueres 80er-Jahre-Jazzhochschule-Übungsmaterial völlig ohne die Dynamik, die die drei Genannten auszeichnet.

  • Vor 9 Jahren

    Und wo ich gerade da bin, ein paar Worte zu Nielsen: Das ist ein Unternehmen, das die Marktstellung von Firmen und Produkten untersucht, also den Verkauf. Die beschäftigen sich mit toten Zahlen, aber nicht mit lebendiger Musik. Jeder Musikhörer ist da kompetenter.

    Jazz ist sicher in weiten Teilen nicht mehr so lebendig wie vor 30 Jahren, aber das hört man an den Alben (und auf Konzerten), wenn dort Altbekanntes aufgekocht wird, man sieht es nicht an den Absatzzahlen. Trotzdem natürlich erschreckend und für mich ein Indiz für die blutleere Akademisierung des Jazz. (Das jedenfalls kann man Washington nicht vorwerfen.) Meine Vermutung: Auf Dauer wird sich die Anzahl der Jazzhörer an die Absatzzahlen angleichen, die wissenschaftliche Abhandlungen erzielen.