laut.de-Kritik
Trotz aller Schönheit liegt ein dunkler Schleier über den Tönen.
Review von Toni HennigLange Zeit konnte er sein Schweigen aufrechterhalten, doch vor Kurzem brach er es in einem Interview für die New York Times: Keith Jarrett gab bekannt, dass er wohl nie wieder Live-Konzerte spielen werde. Nach zwei kurz hintereinander erlittenen Schlaganfällen 2018 musste er das Laufen mühsam neu erlernen, bis heute ist seine linke Körperseite immer noch gelähmt. Jedoch ließ seine Plattenfirma ECM in den zurückliegenden Jahren so gut wie sämtliche seiner Auftritte mitschneiden, so dass man als Fan sicherlich noch das ein oder andere Trostpflaster bekommt. Mit dem "Budapest Concert" kommt nun nach "Munich 2016" ein zweiter Mitschnitt von seiner Europa-Tournee 2016 auf den Markt.
Das Konzert vom 3. Juli 2016 in der Béla Bartók National Concert Hall bezeichnete der 75-jährige Ausnahmepianist nicht nur als "Heimkehr", da seine familiären Wurzeln bis nach Ungarn zurückreichen, sondern auch als "Goldstandard", an dem sich all seine bisherigen Solo-Auftritte zu messen hätten. Zumindest begegnet man einem weiteren großen Highlight in seiner langen Karriere.
Schon in "Part I" spielt er sich von jeglichen Erwartungshaltungen des Publikums frei, wenn er zunächst mit wüsten Tastenschlägen eine avantgardistische Note an die nächste reiht, ohne sich an einem bestimmten Rhythmus und einer bestimmten Tonart zu orientieren. Dazu streut er hier und da seinen markanten krächzigen Singsang ein. Jarrett, der 2007 sein Publikum beim größten Jazz-Festival Italiens in Perugia mit allerlei Beschimpfungen bedachte und die Bühne das gesamte Konzert lang abdunkeln ließ und deshalb bis 2013 dort nicht mehr auftreten durfte, kehrt hier seine wütende und launische Seite auf musikalischem Wege nach außen - wie auch schon 1975 im zweiten Teil der legendären "The Köln Concert"-Aufnahme, die bis heute über vier Millionen Mal über die Ladentheke ging.
Gegen Ende öffnet sich die Improvisation atmosphärisch, ziehen mit tiefen, bedrohlichen Tastentönen doch zunehmend schwere Wolken auf. Zeit, nach diesem 'ich pfeif' auf alles'-Moment, es ein wenig ruhiger angehen zu lassen. "Part II" klingt mit zaghaften, sensiblen Tönen nämlich so zärtlich und lyrisch wie Beethoven. Die Ruhe währt jedoch nicht lange, wenn er in "Part III" mit virtuosen, bildhaften Klang-Figuren eine düstere Spannung erzeugt, die sich allerdings noch nicht entlädt. Das schwere Gewitter folgt erst mit einem sich ständig wiederholenden, entschlossen gespielten Motiv in "Part IV", das im tiefstem Moll ertönt.
Danach gestaltet sich das Konzert stilistisch offener. Dabei schöpft Jarrett von melancholisch lyrischen Improvisationen ("Part V", "Part VIII") über sperrige avantgardistische Skizzen ("Part IX") bis hin zu traditionellen, fast schon zaghaften Jazz-Anleihen ("Part VI") aus seinem vielseitigen stilistischen Repertoire. Auch verneigt er sich in "Part XII - Blues" mit leichtfüßig verspielten und vor sich hin tänzelnden Blues-Rhythmen überaus überzeugend vor den großen Errungenschaften Robert Johnsons, Muddy Waters', Howlin' Wolfs & Co.
Wenn in "Part X" jedoch beeindruckend virtuose Motive auf eine schwere Gegenfigur treffen, dann wirkt das wie eine finstere Vorahnung. Trotz aller Schönheit, die an vielen Stellen immer wieder aufblitzt, liegt stets ein dunkler Schleier über den Tönen, wie etwa in "Part VIII", wenn in den romantischen Klängen, in die sich Jarrett mit voller Hingabe hineinfallen lässt, immer eine gewisse Tristesse mitschwingt.
"Part XI" geleitet schließlich den Weg in die Nacht, wenn verregnete Töne und gefühlvolle lyrische Momente aufeinandertreffen. Im Zugabenteil warten noch eine Neuinterpretation des Jazzstandards "Answer Me" und des uralten Charles Kisco-Schlagers "It's A Lonesome Old Town". Die beiden Stücke gab Jarrett auch am 16. Juli 2016 in München zum Besten, jedoch in leicht veränderter Form. Beide Male steht feinfühlige Melancholie im Vordergrund. "It's A Lonesome Old Town" hat der Ausnahmepianist in München aber nicht so traumhaft dargeboten. Statt auf Momente, die in ihrer melodischen, strahlenden Schönheit unmittelbar berühren, setzte er dort auf eine impressionistischere Herangehensweise.
Somit holt Keith Jarrett beim "Budapest Concert" das Maximum aus seinen spielerischen Möglichkeiten heraus, bewegt sich hier und da auch mal am Rande der Atonalität, nur um später wieder zur Zugänglichkeit zurückzufinden. Eine gleichermaßen berauschende wie überwältigende Machtdemonstration, die hoffentlich noch sehr lange nachhallt.
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