laut.de-Kritik
60 Minuten Musik gewordener Menschenhass.
Review von Simon LangemannRavensburg. Drogeriemarkt Müller. Musikabteilung. Irgendwann 2006. Ich muss vorher wohl aufgeschnappt haben, dass man als Linkin Park-Fan auch Korn gut finden könnte. Also die aktuelle Platte "See You On The Other Side" schnappen und ab damit in einen der längst überholten CD-Player. Eine Minute lang krude Geräusche. Und dann ein Riff, das meinen Musikgeschmack – nein, nennen wir es ruhig beim Namen – mein Leben verändern sollte: "Twisted Transistor".
Ausgerechnet "Twisted Transistor". Die enttäuschende erste Single nach dem Ausstieg von Leadgitarrist Brian "Head" Welch. Der Anbruch eines von Mittelmäßigkeit geprägten, bis heute andauernden Kapitels der Korn-Geschichte.
Ich brauchte anschließend ein paar Monate, um zu verinnerlichen, dass ich die fetten Jahre wohl verpasst habe. Das missgelaunte und selbstbetitelte Meisterwerk "Korn", mit dem die Band heute vor ziemlich genau zwanzig Jahren ihr goldenes Zeitalter einläutete, verlor dabei zum Glück kein bisschen seiner Faszination.
52 Sekunden Anlauf brauchen Korn, um ihre Initialzündung vorzubereiten. Alles beginnt mit einem entschlossenen Ride-Becken und trivialen Nachschlägen auf der Gitarre. Ein überaus skurriles Szenario - bis das Quintett irgendwann ernst macht. "Are you ready?!", brüllt Jonathan Davis die rhetorischste aller rhetorischen Fragen in die Welt hinaus. Und zum Neinsagen bliebe auch gar keine Zeit: Sekundenbruchteile später brechen alle Dämme und man findet sich wieder in einem musikalischen Abwärtsstrudel - namentlich "Blind". So was nennt man wohl 'Instant Classic'.
Die Soundidee – eine Kombination aus zwei bitterböse verzerrten Siebensaitern und einem geslappten Tieftöner – war jedenfalls so gut und einzigartig, dass sich bis heute keiner getraut hat, sie zu kopieren. Wenn man dazu den blutjungen David Silveria trommeln hört, will man Jonathan Davis' jüngsten Aussagen, dieser habe das Schlagzeugspielen nie wieder so geliebt wie auf den ersten beiden Platten, schon fast Glauben schenken.
Weit entfernt vom musikalisch-gesanglichen Zenit bewegte sich hingegen Davis selbst. Dafür rief er zwischen ausufernder Aggressivität, verzweifeltem Winseln und absoluter Gefühlskälte ein unfassbares Spektrum ab. Zudem bringt der Anfangzwanziger, der sich erst mithilfe eines Wahrsagers für den Einstieg in die Band entschied, seine seelischen Abgründe auf unvergleichlich schonungslose und ehrliche Art in die Lyrics ein: Erniedrigungen in der High School ("Faget"), Paranoia in der Beziehung ("Need To") und ein selbst erfahrener Kindesmissbrauch, den die Eltern für eine Lüge halten ("Daddy").
Die Geschichte des letzteren Stückes inspirierte auch das bis heute gelungenste Cover-Artwork der umfangreichen Korn-Diskografie. Zudem blieb "Daddy" neben dem legendären Dudelsack-Intro aus der Kinderlieder-Collage "Shoots And Ladders" das einzige musikalische Experiment der Platte. Vielleicht erscheint dieses Album genau deshalb so schlüssig.
Insgesamt sind es fast 60 Minuten Musik gewordener Menschenhass, den Korn zwar nicht in virtuose Glanzleistungen, aber in eine Fülle an genialen Arrangement-, Riff- und Groove-Ideen umsetzen. Rückblickend will man kaum glauben, dass sich die fünf Weirdos aus Bakersfield mit diesen Songs im Gepäck monatelang den Arsch abspielen mussten, bis sich die Epic-Tochter Immortal Records endlich erbarmte und sie unter ihre Fittiche nahm.
Produzent Ross Robinson passte die Band 1994 schließlich an einer faszinierend ambivalenten Stufe ihrer Entwicklung ab: Einerseits greift im Bandgefüge bereits jedes Rädchen ins andere. Gleichzeitig wohnt der Musik ein erfrischender Dilettantismus inne, der bereits beim ebenfalls von Robinson betreuten Nachfolger "Life Is Peachy" teilweise verflogen schien und über die Jahre naturgemäß nie zu hundert Prozent wiederkehrte.
Ein Jahr vor "Adrenaline", drei vor "Three Dollars Bill, Y'all$", fünf vor "Slipknot" bzw. "The Fundamental Elements of Southtown" und sechs vor "Hybrid Theory" markierte das Korn-Debüt zwar noch nicht die Blaupause, wohl aber eine Art Urknall für ein ganzes Genre: New Metal. Eine musikalische Bewegung, die heute gerne als stupides Jugendphänomen belächelt wird und ein Jahrzehnt später restlos ausgeschlachtet und totgehypt zugrunde ging. Vielleicht ist ein Genre, das auf radikaler Vereinfachung beruht, aber auch von Anfang an zum Übergangsphänomen verdammt.
Korn scheinen 20 Jahre nach ihrem Erstling jedenfalls wie in einem Trott gefangen, in dem sie in regelmäßigen Abständen ihre letzte Chance vergeben - um sich mit einzelnen Top-Tracks doch immer eine nächste letzte Chance zu erkämpfen. Daran änderte zuletzt auch die ersehnte Rückkehr von Brian "Head" Welch nichts.
Doch anstatt in den Chor der verbitterten Ex-Fans einzustimmen, erfreue ich mich lieber an der Tatsache, wie viel denkwürdiges Korn nach ihrem einzigartigen Debüt noch zustande gebracht haben: drei weitere Über-Alben in den Neunzigern und zwei mit Abstrichen fantastische Platten nach der Jahrtausendwende.
Jedenfalls genug Material für den Tag, an dem die Kalifornier via Facebook-Statusmeldung ihre Auflösung bekannt geben werden. Musik voller Hass, Aggressivität, Wut, Melancholie und Resignation - aber mit einer ermunternden Wirkung, für die man den Herren Davis, Welch, Shaffer, Arvizu und Silveria auf ewig dankbar sein darf.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
11 Kommentare mit 34 Antworten
Uhhhh das wird ein Fanboy vs. Hater Fest !
Aber egal wie man zu Korn steht, das Debut iist auf jedenfall ein Meilenstein. Ob die nachfolgende Entwickelung nun positiv oder negativ war muss jeder selbst wissen. Limp Bizkit sind auf jeden Fall noch heute sackgeil
Nein sind sie nicht, was hauptsächlich an Fred Dursts völliger fehlenden Talent liegt.
"Eine musikalische Bewegung, die heute gerne als stupides Jugendphänomen belächelt wird und ein Jahrzehnt später restlos ausgeschlachtet und totgehypt zugrunde ging."
War das nicht immer schon so, das musikalische Entwicklung stellvertretend für ihre Zeit steht und da dann auch verharrt bis zum nächsten Step? Kenne jedenfalls keine Musikrichtung in der modernen Rock/Popmusik, die nicht schon tot geschrieben wurde und dann nicht wiederbelebt und quietsche vergnügt aus der Mottenkiste hüpfte.
Was für ein Zufall Hab ich mir gestern spontan im Saturn gekauft und dachte mir noch: "Hm könnte auch mal nen Meilenstein vertragen die Platte" und Zack da ist er. War nach dem Around the Fur Meilenstein für die Deftones eh nur eine Frage der Zeit und absolut berechtigt. Man kann das Genre gerne hassen, aber einige wenige sehr starke Höhepunkte wie Around the Fur, Korn's Follow the Leader, die bereits angesprochene Hybrid Theory oder auch Toxicity kann man dem Nu Metal einfach nicht absprechen !!
Chocolate Starfish würde ich auch reinzählen, die Dichte an Hits ist meiner Meinung nach auf dieser Scheibe kaum zu überbieten, gefühlt jeder Track wurde erfolgreich mit fettem Video ausgekoppelt und alle weiteren Songs auf der Scheibe sind ebenfalls Instant-Classics des Genres. Man kann sie belächeln, aber man muss auch würdigen dass Sie dope waren und auch heute noch ganz ordentlich abliefern.
Hmm würde wohl eher zur Significant Other tendieren. "Break Stuff" ist einfach zu fett. Populärer und stilprägender wird die Chocolate Starfish aber wohl gewesen sein, da hast Du Recht.
Signifcant Other ist ganz nett, Chocolate Starfish ist hingegen schlecht produzierter, monotoner, sich lediglich auf Riffs stützender, schlecht gesungener und gerappter Abfall mit miserablen Texten und und ein paar einprägsamen Refrains.
Da ich damit rechne, dass noch einige Hass-Attacken folgen werden, will ich mich vorab bei Simon Langemann und bei laut.de generell für die Rezension bedanken. Sehr mutige und sehr konsequente Auswahl. Man kann vom Nu Metal halten, was man will, aber dieses Genre ist schlicht und ergreifend ein Sprachrohr und nicht so ein Gepose wie dieses Indie-Getue à la Arctic Monkeys. Speziell bei Korn oder bei den Deftones geht es nicht um ein hübsches Image, sondern um aufrichtige Emotionen und ehrliche Überzeugungen, was dieses Genre für mich automatisch sympathisch macht.
Was speziell Korn anbelangt, so halte ich zwar eher Follow the Leader für ein Meilenstein, weil es einfach das bahnbrechendere Album ist (vor allem die Riffs sind für mich an Originalität kaum zu überbieten), aber deren Debütalbum ist auch nicht ganz ohne, vor allem, weil Shoots and Ladders perfekt arrangiert und Daddy eines der intensivsten Songs aller Zeiten ist (vor allem bei Schluss zieht sich in mir alles zusammen), von daher: Tolle Wahl, laut.de, weiter so!!
KORN FTW
(Entschuldigt einige etwas unbeholfene Formulierungen, bin gerade etwas besoffen).
Da ich damit rechne, dass noch einige Hass-Attacken folgen werden, will ich mich vorab bei Simon Langemann und bei laut.de generell für die Rezension bedanken. Sehr mutige und sehr konsequente Auswahl. Man kann vom Nu Metal halten, was man will, aber dieses Genre ist schlicht und ergreifend ein Sprachrohr und nicht so ein Gepose wie dieses Indie-Getue à la Arctic Monkeys. Speziell bei Korn oder bei den Deftones geht es nicht um ein hübsches Image, sondern um aufrichtige Emotionen und ehrliche Überzeugungen, was dieses Genre für mich automatisch sympathisch macht.
Was speziell Korn anbelangt, so halte ich zwar eher Follow the Leader für ein Meilenstein, weil es einfach das bahnbrechendere Album ist (vor allem die Riffs sind für mich an Originalität kaum zu überbieten), aber deren Debütalbum ist auch nicht ganz ohne, vor allem, weil Shoots and Ladders perfekt arrangiert und Daddy eines der intensivsten Songs aller Zeiten ist (vor allem bei Schluss zieht sich in mir alles zusammen), von daher: Tolle Wahl, laut.de, weiter so!!
KORN FTW
(Entschuldigt einige etwas unbeholfene Formulierungen, bin gerade etwas besoffen).
Hmm ich sehe die Arctic Monkeys auch absolut als Sprachrohr nur halt auf ein völlig anderes Gefühl bezogen. Is ja auch egal, ich hör halt beide Bands gerne Und meiner Meinung nach ist sowieso Around the Fur > sämtliches alternative/crossover/whatever Album. Sogar noch vor Korn auch wenn die definitiv den Grundstein gelegt haben. Allerdings muss mann dann meiner Meinung nach auch beispielsweise Hybrid Theory wertschätzen (auch wenn es natürlich kommerzieller orientiert war als Alles davor). Chester hat sich bei dem Album genauso ehrlich die verzweifelte Seele aus dem Leib geschrien wie Chino und Jonathanc es getan haben.
Außerdem finde ich es irgendwie interessant wie gut sich sehr viele Leute hier eigentlich mit Nu-Metal bzw. Alternative auskennen obwohl ersteres ja eigentlich in musikschätzenden Kreisen total verpönt ist??
Erfahrungsgemäß is man irgendwann abgeklärt genug, seinen im Rückblick manchmal fragwürdig erscheinenden musikalischen Werdegang vernünftig einzuordnen - und ein guter Teil der User hier wurde nunmal genau in der Nu Metal Welle groß. Was viele von uns natürlich nicht davon abhält, die Jugend-Mainstream-Phänomene der Jetztzeit zu vermöbeln, aber das ist wohl ein urmenschlicher Reflex.
Groß geworden bin ich zur Nu-Metal-Zeit nicht wirklich (bin ja erst 19), aber dennoch feiere ich dieses Genre ab ohne Ende, weil es eine völlig neue Form der musikalischen Direktheit ist. Das entdecke ich bei aktuellen musikalischen Strömungen nicht wirklich. Ich mag zwar die Strokes und die White Stripes sehr gerne, aber das heutige Indie-Rock-Genre ist für mich inhaltich an Banalität kaum zu überbieten. Es mag zwar eine Art Meckerer-Instinkt sein, aber heutzutage kann ich so eine Strömungsexplosion wie in den 90ern nicht mehr entdecken. Wenn ich mich heute im Rock-Genre so umschaue, entdecke ich nur Indie-Geplänkel der Sorte Arctic Monkeys oder - ganz schlimm - langhaarige Nerds, die Uriah Heep und konsorten nachahmen. Ehrliche Überzeugungen wie damals bei Rage Against the Machine, Nirvana oder eben Korn entdecke ich da nicht mehr. Für mich ist das nur noch Gepose der übelsten Sorte.
Dieser Kommentar wurde vor 10 Jahren durch den Autor entfernt.
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Böse Zungen würden behaupten, dass die Musik so oberflächlich ist wie die Breite der Konsumenten, aber das wäre, wenn auch vermutlich nicht komplett falsch, nur ein winziger Teil der Wahrhheit. Musikkonsum ist durch die große Verfügbarkeit und Zugänglichkeit im Zuge der Streamingdienste und des Internets allgemein viel persönllicher geworden, was eben auch bedeutet, dass die Schwelle für die Übernahme des Mainstreams durch eine verbindende Jugendmusik höher geworden ist. Charts und MTV haben einen viel kleineren Einfluss, in vielen Wochen reichen in Deutschland weniger als 25000 verkaufte Alben für Platz 1.
Fehlende "Ehrlichkeit" in der Musik ist ein anderes Thema, ich weiß zwar, was du damit meinst, allerdings ist der Ausdruck mir zu despektierlich. Musik, die einfach laut die Probleme des Aufwachsens herausschreit und sich damit etwas rebellischer von "erwachsenen" Themen abgrenzt, gibt es im Moment in einer Dichte, dass man daraus eine Bewegung konstruieren könnte, nicht. Zumindest nicht verglichen mit Grunge, Nu Metal, Emo/Screamo oder gar so etwas wie die Anfänge des Rock'n'Roll oder Punk. Ich hege allerdings keine Zweifel daran, dass sich das ändern könnte, wenn die Komponenten, die solche "Bewegungen" auslösen, wieder zusammen kommen.
[EDIT]Ist irgendwas mit dem BB/html-code kaputt?
Geiles Album aber ich persönlich finde Follow your Leader besser.
Was sagt Der_Zyniker dazu?