laut.de-Kritik
Das Ich in albtraumhafter Umgebung.
Review von Sven Kabelitz"Solitude". Wie ein flackernde Neonreklame prangt der Titel über dem fünften Kosheen-Album. Hier findet sich nur Einsamkeit, umgeben von urbaner Tristesse und der psychischen Einöde des seelenfressenden Großstadtmolochs.
Viel hat sich im vergangenem Jahr verändert. "Solitude" verlangt dem Hörer deutlich mehr ab als das vor einem Jahr veröffentlichte "Independence". Weitestgehend von marktschreierischen Refrains befreit, fokussieren sich Kosheen auf ein weitläufigeres Klangbild. Anstelle einzelner Tracks bildet der Longplayer eine einheitliche Atmosphäre auf. Lügenlieder, die sich nicht auf dem ersten Blick erschließen und deren schattige Ästhetik vor ausgetüfteltem Songwriting steht.
Sian Evans büßt ihre Hauptrolle ein. Ihr klagender Gesang dient viel mehr dazu, gezielte Nadelstiche in ihr schummriges Umfeld zu setzen. Mehrfach steuert sie nur Fragmente bei und fungiert als zusätzliches körperloses Instrument. Mit ihr geht zunehmend der direkte Kontakt zum Hörer verloren. Sperriger Radau hält ihn weiter auf Distanz.
Was in den ersten Takten von "Save Your Tears" wie Culture Beats "Mr. Vain" beginnt, nimmt schnell eine komplette Kehrtwende. Die Partystimmung zerbröselt. Der Track bricht unter dröhnender Elektronik zusammen. Zurück bleibt der Kater am nächsten Morgen, das Dämmerlicht eines diesigen Herbsttages. Schwermut hält Einzug und der Schädel dröhnt bei jedem hinterhältigen Bassschlag.
In "I" zerfetzen Markee Substance und Darren Decoder endgültig den Leib ihrer Sängerin in unzählige Teile. Einzig ein isoliertes "I", verzerrt und aus jeglichem Zusammenhang gerissen, bleibt von ihr übrig. Ein Ich in der albtraumhaften Umgebung delphischer Sci-Fi Noir-Musik. Ein funktionsuntüchtiger Replikant unter den Hufen einer in Zeitlupe aufgenommenen Beat-Stampede begraben. Träumt Sian Evans von elektrischen Schafen?
Wenn Kosheen in "Divided" und "Observation" in ihren altbackenen Trott zurückfallen, umgibt diesen Apathie und die narkotische Qualität smaragdgrünen Absinths. In "745" bleibt nur noch eine entrückte, mit unscharfen Textfragmenten durchzogene Skizze ihrer vergangenen Vita zurück.
Der Titeltrack bietet einen einsiedlerischen und effektiven Abschluss. Mehr trostloser Schutt als Song, winden sich Evans Vocals durch Scherben und Ascheregen. Ziellos lodern Synthesizerflächen einem defekten Laserschwert gleich durch die Ruinen vergangener Generationen. Eine letzte fesselnde Abrechnung und bittere Pille für den Abspann.
"Solitude" vermittelt trotz seines experimentellen Charakters ein geschlossenes und düsteres Bild. Innerhalb eines Jahres haben Kosheen auf der Suche nach einer neuen Identität einen gewaltigen Sprung gewagt. Über weite Strecken verabschiedet sich die Band komplett vom kommerziellen Gedanken und findet sich meilenweit von "Resist" und "Kokopelli" entfernt wieder. Ein fesselndes Album, das mit jedem Durchgang wächst.
5 Kommentare mit 2 Antworten
oh weh, das klingt spannend, aber nicht so wie ich es mir gewünscht hätte, mochte ich doch "resist" und "kokopelli" grad wegen der leicht eingängigen harmonien und melodien.
Kosheen! Schon ewig nix mehr von gehört. Review hört sich recht vielversprechend an, da wird gleich mal reingehört.
Klingt ja wirklich vielversprechend - könnte auf den Weihnachtswunschzettel landen...
Fand die alten Sachen auch ganz gut - wird aber mal reingehört. Ich erinnere mich noch an Kosheen als Vorgruppe von Faithless in Hamburg - Da war das schon strange und geil...ott ist das lange her...
Kosheen hab ich irgendwann rund 10 Jahren live in der Centralstation in Darmstadt gesehen, war ein richtig geniales Konzert. Ging gut ab. Mit Zivibullen, die Kiffer aus der Menge gezogen haben. Peinliches Hessen halt...
Hahaha. Totzdem habe ich in der Centralstation ein paar feine Konzerte gesehen. Highlight: Funny Van Dannen. Eher zum Fremdschämen: Blumfeld.
Centralstation ist ein cooler Veranstaltungsort!