laut.de-Kritik
Unter dem dicken Rouge: hervorragend arrangierter, kurzweiliger Dancepop.
Review von Matthias MantheDass die Zukunft des Synthiepops weiblich sei, behauptete im vergangenen Herbst jedes zweite Musikfachblatt. Tatsächlich lässt sich aus der jüngeren Vergangenheit dieser Schluss ziehen: Die Amerikanerin Lady Gaga ist binnen kürzester Zeit zur Trash-Ikone gewachsen, im Vereinigten Königreich erobert aktuell Rotschopf La Roux die Topplatzierungen der Verkaufscharts.
Es ist folglich höchste Zeit für (die ehemals brünette) Victoria Hesketh, einzige ständige Vertretung der Filiale Little Boots. Das Rohmaterial ihres Debüts liegt schon seit ungefähr einem Jahr auf Halde. Über den Verzug ärgert sich die Londonerin aber nicht, denn: Wer unter diversen anderen Joe Goddard von Hot Chip als Produzenten hinter sich weiß, stresst sich nicht, sondern begleitet Charterfolg-optimierende Maßnahmen vor der Veröffentlichung eben so gut er kann mit Haareblondieren und reichlich Talkshow-Auftritten.
Dabei hat Hesketh aus ihrem Ziel Hitlisten-Entry + x von Anfang an kein Geheimnis gemacht: "I'm not going to apologise for making a pop song, as making pop songs is what I said I wanted to do right at the start." Warum sie trotz Kommerzialität länderübergreifend von Indiemagazinen geliebt wird (erst vor kurzem gab Little Boots auf dem Spex-Festival in Berlin den Headliner), liegt ebenso wenig im Verborgenen.
Zum einen hat Pop an sich seinen altgedienten Nebenjob als Feindbild für einen (vermeintlich) elitären Untergrund bereits Ende der Neunziger an den Nagel gehängt. Dafür musste Kylie Minogue, Role Model der hier vorgestellten Künstlerin, gar nicht erst in Dauerrotation auf Viva zwei passieren. Das Klassendenken ist überfällig geworden und scheint zumindest in Fließrichtung Indie -> Mainstream zu den Altlasten zu gehören. Auch wenn oft genug die ironische Geste einschränkend mitwirkt.
Die zweite Ursache schließt unmittelbar daran an. Der Popbegriff hat sich auch innerhalb des intellektuell gehobenen Musikjournalismus' von "Pop = Leidenschaftsdefizit" zu "Pop = gutes, eingängiges Songwriting" gewandelt. Damit also ist Popkunst allgegenwärtig und mitunter fast inflationär. Fest steht damit übrigens weiterhin: Das bisherige Distinktionspotenzial durch Bejahung statt Antihaltung schwindet zusehends. Ein Pop-a-priori-Geilfinden hat in der Kritik wenig Zukunft.
Zurück also zum Exempel Little Boots und zur Eingangsfrage: Ist es gerechtfertigt, wenn Victoria Hesketh auf die renommierten Festivals Glastonbury, Sonar und Roskilde geladen wird, während Lady Gaga das Stigma Plastikschund trägt? Gemeinsamkeiten gibt es schließlich genug.
Wie die Konkurrenz aus NYC beruft sich die 25-Jährige sowohl auf die frühe Madonna als auch auf 80er-Dancepop, Kollegin Fromm vermutet gar ein weiteres Sandra-Comeback. Konkreter und regelmäßiger fallen allerdings Hinweise auf Italo Disco. Synthesizer, Keyboards und Drumcomputer sowie eine hinreißend mädchenhafte Stimme erzählen hier vom Glauben an den Synergieeffekt 1+1.
Hesketh verabreicht dem Dancefloor von Boomboxing im Süßwarenladen ("New In Town") zu bratzendem Technopop ("Stuck On Repeat", eine Reminiszenz an Donna Summers "I Feel Love") immer genau die Dosis, von der man mehr will. Die Rave-Sirenen in "Remedy" gehen wegen Trashgefahr an der nächsten Kreuzung noch lange nicht vom Gas, und "Meddle" ist der Pseudo-Timbaland-Track, der Spears' letzten Ausschank im Alleingang geliftet hätte.
Die Extraportion Kitsch funktioniert als Kit für die Fugen zwischen Eurodance, gelegentlicher Elektro-Distortion und Kylie Minogue-Tribute. Insbesondere der Disco House von "Hearts Collide" gleicht einem Frührentenantrag für die Australierin. Das Haupt-Unterscheidungsmerkmal zu Lady Gaga bleibt jedoch neben elektronischerem, weniger Hip Hop-geschwängertem Sound Heskeths Identitätsbehauptung.
Sie IST die Songwriterin Little Boots und nicht das Zeugnis eines dubiosen Strippenziehers. Weil in ihrem Fall unter dem dicken Rouge außerdem ein Dutzend hervorragend arrangierter, stets kurzweiliger Dancepop-Stücke steckt, reißt selbst ein an Jeanette erinnernder Schlager wie "Tune Into My Heart" keine allzu tiefen Wunden in die (indie-kompatible) Hitsammlung. Die Gegenwart des Synthiepop ist somit in der Tat in weiblicher Hand. Sollen doch die anderen Platten für die Ewigkeit schreiben.
14 Kommentare
Aha, ich habe die Ehre des ersten Kommentars. Ich schließe mich der vernichtenden Spiegel-Online-Rezension an und sage: Schrott.
SPON: "Hands" ist genau die Sorte Album, bei der man sich in spätestens drei Jahren fragt, warum man es damals eigentlich gekauft hat. War eine Frau im Spiel, oder wurde man von den durchaus amüsanten Instant-Hits "New In Town" und "Remedy" überrumpelt? Alles auf "Hands" ist Plastik und will nicht mehr als Plastik sein: Schmerzhaft offensichtliche Refrains, die die Auffassungsgabe eines Fünfjährigen beleidigen würden, abgeschmackte Eighties-Faksimiles wie "Symmetry" (für das sich leider Human-League-Sänger Phil Oakey hergegeben hat) und sturzblöde Texte, die spielend an der von Toto fest installierten "Fire-desire"-Markierung kratzen. Ein ungerechter Hype, der nicht nur wie gewohnt an der Zurechnungsfähigkeit des "NME" zweifeln, sondern auch genau acht Buchstaben auf der Zunge tanzen lässt: Andrew WK."
Wird aber trotzdem abgehen wie ein Zäpfchen, Konsumverhalten lässt grüßen.
Die britische Bad Taste-Invasion, Teil 1. Absolut grauenhaft.
Anderer Meinung.
Album ist da. Ich find das voll gut .
@Olsen («
P.S. Gerade mal zwei Little Boots-Songs angehört. Übler Müll. »):
danke.
Wenn ich jemanden von den neuen Elektro-Trash Queens noch in 5 Jahren einen Plattendeal wünschen würde... dann wäre es auf jedenfall Little Boots.