laut.de-Kritik
Die Neuseeländerin zieht sich bis auf die Knochen aus.
Review von Lisa Rupprecht"Virgin" ist Lordes bisher radikalstes Album, ein Werk, das sich bewusst den Konventionen des Pop entzieht. Das Cover kündigt an, was einen erwartet: eine Röntgenaufnahme ihres Unterleibs, sichtbar sind der Reißverschluss ihrer Hose, ein Gürtel und ihre Spirale (IUD). Das Bild ist eine intime Momentaufnahme und erzählt eine tiefgreifende, langfristige Geschichte wie das Album selbst. Es geht um das Jetzt, das sich nicht festhalten lässt. Und es geht um das, was bleibt.
Lorde erzählt auf "Virgin" von Identität, Begehren, Schmerz, Selbstakzeptanz und dem Versuch, all das nebeneinander stehen zu lassen. Nicht alles muss aufgelöst werden, nicht jede Wunde braucht sofort ein Pflaster. "Hammer" markiert den Auftakt, kraftvoll und gleichzeitig zurückgenommen. Ihre Stimme trifft auf unfertige elektronische Beats, als würde sie direkt im Entstehungsmoment denken und fühlen. "Some days I'm a woman, some days I'm a man" – dieser eine Satz erklärt mehr über ihr aktuelles Ich als ein ganzes Interview. Lorde gibt sich nicht kämpferisch, sondern durchlässig.
In "Shapeshifter" erweitert sie dieses Gefühl. Sie spielt mit der Märchenfigur Rapunzel, die ihre Haare herunterlässt – ein Symbol für Sehnsucht und Gefangenschaft. Doch die Künstlerin lebt nicht in einem Märchen, sie reflektiert über ihre vielen verschiedenen Partner und fragt sich, warum sie nicht aufhören kann, obwohl sie es eigentlich schlimm findet. Gleichzeitig vergleicht sie sich mit Eis und Flamme, fragt sich, warum sie so vieles gleichzeitig ist – mal männlich, mal weiblich – und warum sie trotzdem in alten Mustern feststeckt. Trotz der ehrlichen Selbstbeobachtung verändert sie ihr Verhalten nicht. Die Analyse dreht sich häufig im Kreis.
Auch "GRWM", das mit einem zunächst etwas sperrigen Beat beginnt, wirkt beim ersten Hören eher unausgeglichen. Trotzdem entfaltet der Song im Verlauf eine gewisse Stärke, grade durch die Offenheit im Text. Der Titel spielt mit der Abkürzung "Get Ready With Me", steht aber auch für "Grown Woman". Es geht nicht nur um das Heranwachsen im eigenen Körper und das Erbe der Generationen, sondern auch um den öffentlichen Prozess des Erwachsenwerdens.
Ein besonders intensives und herausforderndes Stück auf der Platte ist "Broken Glass". Hier setzt ihre Stimme abgehackt und fragmentarisch ein, der Klang das innere Zerrissensein und die Ambivalenz ihrer Essstörung widerspiegelt. Sie gesteht sich ein, dass sie für diese Krankheit auch eine gewisse "Liebe" empfindet. Eine toxische Vertrautheit, aus der sie schwer herausfindet. Es ist, als würde sie sich selbst in einem Spiegel aus zerbrochenem Glas betrachten, immer wieder kleine Splitter von Kontrolle und Selbsttäuschung aufsammeln, während sie gleichzeitig gefangen bleibt.
Viele der Tracks drehen sich um Beziehungserfahrungen und das Scheitern daran. "What Was That" funktioniert sowohl als Rückblick auf eine toxische Liebe als auch als Kritik an einem entfremdeten Verhältnis zur Öffentlichkeit, zu den Fans, zur eigenen Karriere. Lorde reißt an, sie zitiert, sie lässt offen. Es geht nicht darum, etwas zu erklären, sondern etwas zu zeigen.
"Current Affairs" hingegen brennt. Sie beschreibt ein kurzes, aber intensives Erlebnis mit jemandem, das sich während einer Sonnenfinsternis abspielt. Es geht um diese Mischung aus Euphorie und Selbstbetrug, wenn man sich vormacht, es sei mehr, obwohl es nie ernst war. Sie will eine Liebe, die alles bedeutet, bekommt aber nur etwas Lockeres. Und daran zerbricht sie fast. Die Produktion, die auf einem Sample von Dexta Daps' "Morning Love" basiert, unterstreicht diesen Widerspruch: sinnlich, aber gebrochen.
In dem letzten Song "David" fragt sie sich, ob sie überhaupt je wieder lieben kann. Die Antwort bleibt offen. Direkt davor setzt "If She Could See Me Now" einen Kontrast. Hier geht es weniger um Verlust als um Rückblick – ein bittersüßer, fast schwebender Song, der mit einer zarten Referenz an Baby Bashs "Suga Suga" beginnt. Was auf den ersten Blick verspielt wirkt, entfaltet schnell eine tiefere Ebene: Lorde singt darüber, was frühere Versionen von ihr wohl denken würden, wenn sie sie jetzt sehen könnten. Trotzdem ist es der einzige Song, der beim ersten Hören nicht sofort zündet. Vielleicht gerade weil er so zurückgenommen ist, weniger greifbar, mehr wie ein Gedanke im Dämmerzustand.
Andere Stücke wirken persönlicher, fast familiär. In "Favourite Daughter" will sie es allen recht machen, vor allem ihrer Mutter. Sie tanzt, bis sie krank wird. In "Clearblue" steht plötzlich alles still – der Song fühlt sich an wie ein kurzer Schockmoment, ein Schwangerschaftstest, der zur Metapher für geerbte Traumata wird. "There's broken blood in me, it passed through my mother from her mother down to me".
Musikalisch entfernt sich Lorde auf "Virgin" von allem, was vorher kalkulierbar oder glatt klang. Die Beats sind skizzenhaft, teils fast roh. Vieles wirkt, als sei es im ersten Take aufgenommen worden, und genau das macht die Intensität aus. Der Sound erinnert stellenweise an Hyperpop, aber immer entschleunigt, gebrochen, verwaschen.
Was das Album so besonders macht, ist seine Weigerung, sich einzuordnen. Der Titel verweist nicht auf sexuelle Unberührtheit, sondern auf Unabhängigkeit. "This album, for me, is honestly just about going straight to the core of who I am", sagt die Künstlerin selbst. Es geht um das Eigene, das Reine – nicht im Sinne von sauber oder korrekt, sondern im Sinne von unverfälscht.
Vier Jahre nach dem polarisierenden Solar Power hat Lorde eine neue Sprache für sich gefunden: skizzenhaft, roh, introspektiv. Ob "Virgin" ihr stärkstes Album ist, bleibt Geschmackssache, aber es ist zweifellos ihr mutigstes.
4 Kommentare mit 6 Antworten
Endlich neue Musik von Randy Marsh
Hoffentlich kommt die Tegrität nicht zu kurz
Push ist immer noch ihr bester Song!
Aber mal im Ernst - Virgin ist sehr gut gelungen! Rückkehr zu (neuer) Form!
Ya ya ya, I am Lorde
Kann mir schwer vorstellen, dass die Platte annähernd so gut ist, wenn die Single "What Was That" einer der schwächsten Tracks ihrer Karriere ist. Aber gut, dann wird die eben doch was früher als geplant gehört.
Hab' heute morgen beim Mails checken & Kaffee trinken schon mal kurz reingesnackt. Mein erster Eindruck sagt mir, dass hier ein Pure Heroine Niveau-light versucht wurde, was auch wohl ein wenig gelungen ist. Es scheint ganz o.k. zu sein, vor allem als nette Abwechslung zur Gitarren-Musik. Mal schauen, was der deepe Look noch so bringt.
"In dem letzten Song "David" fragt sie sich, ob sie überhaupt je wieder lieben kann. Die Antwort bleibt offen."
Kurz hierzu schon mal: natürlich bleibt die Antwort offen. Das ganze Konzept "Liebe" ist offen, also als Begriffs-Konstruktion, siehe hierzu einen der letzten Precht-Auftritte. Man kann ihm viel vorwerfen, aber simple Begriffsdefinitionen a la "Wikipedia ist mir zu langweilig", beherrscht er perfekt. Hier hätte ein Verweis gereicht. Meine persönliche Auffassung ist demnach (auch): niemand kann wirklich lieben ohne ganz feste, langjährige (Ver)Bindung. Die Frage ist also: ist man bereit Zeit, Geduld und Chancen zu "investieren", hat man die Ressourcen? Ist das damit gemeint? Dieses "ich bin so voller Schmerz und kann es nicht mehr zulassen, weil die anderen so doof sind" ist zwar auch gerne von mir im Alltag bevorzugt, aber es ist halt Quatschgelaber. Viel ist eine Frage des Zeit- und Ressourcenmanagements. Und natürlich auch eine Frage der Anspruchshaltung, egal, welches Geschlecht. Ich glaub, das war sie dann doch, die Wiesel-Rezension. Ich mach mir jetzt noch'n Kaffee. Ich brauch unbedingt so eine Sozialarbeiter-Kaffeekanne mit folgendem Spruch: "Na, heute so früh am morgen schon kein Arschloch gewesen?".
... kurz noch zum Albumtitel: ich denke, Lorde möchte hier eher eine Rückkehr zu ihren musikalischen Anfängen andeuten, also bezüglich ihrer "Weiterentwicklungen" jungfräulich sein. Daher gehe ich mit dem ersten Absatz der Rezensentin überhaupt nicht konform. Ich denke, das radikalste an diesem Album ist, das es gewollt überhaupt nicht radikal ist, sondern genau das, was der 10er Pop seit ca. 15 - 18 Jahren leistet. Minimalistisches-Pseudo-Art-Gekünstel, was ja durchaus seinen Charme hat. Die Hintergrund Töne im Refrain der Leadsingle "What was That" hätten im Übrigen auch über ein Alexander Marcus-Feature laufen können
...
+s natürlich.
"Shapeshifter" ist jedenfalls schon einmal einer ihrer allerbesten Songs.