laut.de-Kritik
Trägt die 80er nur noch auf ihren Oberarmen mit sich.
Review von Daniel StraubIn Belgien pflegte man bis vor einigen Jahren eine Atemmeditation der ganz besonderen Art und Weise. Rhythmisches 'Einatmen, ausatmen' stand hoch im Kurs. Diese auf's Wesentliche reduzierte Anweisung verwandelten Front 242 bei ihren Konzerten in ein Glaubensbekenntnis. Auch Caroline Herve wäre der 'Holy Church of EBM' gerne beigetreten, allein ihre späte Geburt hielt sie davon ab. Also wurde Miss Kittin DJane und Musikerin und füllte die Rolle der Hohepriesterin des Electroclash überzeugend aus. Dieser Tage erscheint "I Com", ihr zweites musikalisches Statement über die volle Spielzeit.
Miss Kittin gibt sich auf "I Com" als eine Frau mit vielen Facetten zu erkennen. Wer glaubte, mit dem aktuellen Longplayer die Fortsetzung des stark retrogeschwängerten Debütalbums in Händen zu halten, sieht sich schnell getäuscht. Ihr langjähriger Partner in crime, Michel Amato aka The Hacker, schaute lediglich für einen Track ins Studio zu Miss Kittin. "Soundtrack Of Now", mit seiner nervös gallopierenden Sequenzerline und den kühlen Electro-Flächen weist die größte Nähe zu Produktionen wie "1982" oder "Frank Sinatra" auf. Einatmen ausatmen? Das muss schon sein, zumindest ein bisschen.
Denn man kann Caroline Herve nicht unterstellen, mit "I Com" auf der Stelle zu treten oder gar eine Neuauflage vergangener Erfolgsrezepte zu betreiben. Miss Kittin inszeniert sich mit ihrem aktuellen Album als vielseitige Electro-Queen, der in Thies Mynther und Tobi Neumann zwei unbezahlbare Berater in Sachen Sounds und Grooves zur Seite stehen. Die Chicks On Speed vertrauten ebenfalls schon auf die Dienste der beiden Herren. Die erste Single "Professional Distortion" und das quirrlige "Meet Sue Be She" schlagen die Brücke zum elektronisch aufbereiteten Punk der Chicks mühelos. Einatmen!
Die überwiegende Mehrzahl der Tracks auf "I Com" gelangen jedoch auf verschlungeneren Wegen zu den Hörern. Wie ihre Mix-Compilation "Radio Caroline" setzt auch "I Com" auf feinsinnige Electronica, die nicht notwendigerweise der Tanzfläche als Existenzgrundlage bedarf. "3ème Sexe", ein Cover des Indochine-Klassikers aus den 80ern, zieht verträumt am Ohr vorrüber. Wunderbar naiv und entspannend gibt sich Miss Kittins Ausflug in die "Kiss Factory". Ausatmen!
Das haben sie gut gemacht, Frau Herve. Was bisher nur als Ahnung durch den Raum schwebte, wird mit "I Com" zur festen Gewissheit. Miss Kittin ist in ihre eigene Klangwelt aufgebrochen. Ein primärer musikalischer Bezugspunkt, wie noch auf ihrem "First Album" lässt sich bei "I Com" nicht mehr ausmachen. Das Erbe der 80er Jahre hat vorerst ausgedient und freut sich nun über einen Platz auf den Oberarmen von Miss Kittin. Ganz ohne 'einatmen ausatmen' geht's eben doch nicht.
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