laut.de-Kritik
Hanebüchene Durchhalteparolen für deutsche Biedermeier.
Review von Anne NußbaumIst das kreative Potential eines Musikers erschöpft, muss man nicht gleich verzagen: Greatest Hits, Very Best Ofs, Live-Aufnahmen, Weihnachtsspecials - die Möglichkeiten, aus dem persönlichen Schaffenskatalog noch mal Kapital zu schlagen, ohne auch nur einen schöpferischen Finger krumm zu machen, sind zahlreich.
Besonders das Weihnachtsfest bietet sich zu diesem Zweck hervorragend an. Wir haben erst September? Ach was, ist doch schnuppe! Je früher Nenas aus "Balladen" zusammengewürfelte Scheibe im Laden steht, desto höher die Chance auf Fehlkäufe. Pardon, Vielkäufe.
Auch als Promo für die im Herbst startende Castingshow "The Voice Of Germany", in der das NDW-Frollein a.D. den Coach gibt, kann eine aus verstaubten Rührstücken zusammengeschusterte Sequenz verkitschter Binsenweisheiten nicht schaden. Neuwert hat hier allerdings nichts: Alles schon mal dagewesen, alles schon mal veröffentlicht, nicht ein einziger neuer Song.
Selbst von Umdeutung kann an keiner Stelle die Rede sein. Lediglich die Piano-Version von "Liebe Ist" sowie die stupide als "Nacht-Mix" betitelte Abwandlung von "Wir Sind Wahr" sind Modifikationen, wenn auch kaum interpretative. Letzteres Stück nimmt die diffuse Melancholie von Collins "In The Air Tonight" und biedert sich synthielastigem Chillout an.
Derweil wird die Abart von "Liebe Ist", im Original schon hinlänglich schmonzettig, durch Wegnahme von Drums und Gitarre der rockigen Momente beraubt. Reduziert auf einfache Piano-Akkordfolgen und salbungsvoll vorgetragenen Gesang, wirkt die Version um so süßlicher: Das Pathos findet sich diesmal nicht in der ausschweifenden Rockgeste, sondern im auf stille Larmoyanz getrimmten Schmalz.
Nicht mal die Mühe eines Remasterns, einer neuen Abmischung oder einer Aufnahme mit alternativen Arrangements, ungewöhnlicher Instrumentierung oder Stilvariation war der Künstlerin und der Plattenfirma diese Kompilation der Tränenseligkeit wert. Wahllos aneinandergereiht schleppen sich die Popschnulzen aus allen Schaffensphasen Nenas zwischen seichter Bedeutungslosigkeit und enervierendem Störfall dahin. Das Konzept einer Albumdramaturgie scheint der Sängerin und ihrer Marketingmaschinerie jedenfalls fremd.
Die 18 Nummern ziehen sich wie ranziges Kaugummi, von altbackenem 80er Synthie-Tand über Lost-Love-Plunder zu gefühligen Albernheiten der letzten zwei Jahrzehnte. In jedem Stück findet man eine Perle der textlichen Einfallslosigkeit. "Wir gehören zusammen wie die Sonne und der Mond", "Ich bau dir ein Schloss im siebten Himmel", "Wir dürfen nicht nur an das glauben, was wir sehen": Hanebüchene Durchhalteparolen für deutsche Biedermeier.
Den Vogel schießt hierbei das Eröffnungsstück "In Meinem Leben" ab. Platitüden-Halbsätze, die haarsträubend simple Antagonismen gegenüberstellen: " Ich hab gewonnen und ich hab verloren", "Ich will nicht arm sein und Geld macht mich nicht reich".
Da, wo einem Melodie, Riffs und Instrumentierung gefallen (z.B. "Unerkannt durchs Märchenland"), reißt die Fassade, sobald der Gesang einsetzt: Nicht nur die Lyrics fallen ins Bodenlose, auch die Stimme schwächelt. Hat man die längsten 75 Minuten seit der letzten Sendung Maischberger hinter sich gebracht, brennt eine Frage auf der Zunge, die für immer unbeantwortet bleiben muss: Wo liegt, abgesehen von kaltem Konsumkalkül, die Existenzberechtigung einer selten so ideenarm zusammengeschraubten Kompilation?
30 Kommentare
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
Voll schön, die gefühlvollen Balladen, die sie so singt....hach....
Mal angenommen ich wollte meine Musiksammlung pro Forma mal um eine Best Of von Nena erweitern, da sie ja an und für sich eine wichtige Künstlerin der deutschen Popszene ist: Soll ich mir das kaufen oder lieber auf die Weihnachtssaison 2011 warten, wo Sony eine weitere Kompilation auf den Markt hauen wird? Oder soll ich lieber die 20 vergangenen Best Ofs kaufen? Ich will ja unbedingt 99 Luftballons mit draufhaben, da ich den Song bisher viel zu selten gehört habe und er ja praktisch nie gespielt wird. Dieser Sachverhalt gilt übrigens auch für Leuchtturm.
Oder soll ich Leinemanns Rat folgen und 16,94? für ein gutes Essen ausgeben? Indisch, chinesisch oder italienisch? Fragen über Fragen! Lohnt es sich vielleicht die 16,94? in eine Groenemeyer Best-Of zu investieren um meine hohen musikalischen und v.a. lyrischen Ansprüche bei deutscher Musik zu erfüllen? Oder doch lieber Warten bis Weihnachten ist und mir die kommende Best-Of von Groenemyer UND Nena als Geschenk an mich selbst kaufen?
Was muss man denn da groß erklären? Es scheint sich zu rechnen, also wird es gemacht.
@CafPow (« @fireflyer (« "Nicht mal die Mühe (...) einer neuen Abmischung oder einer Aufnahme mit alternativen Arrangements, ungewöhnlicher Instrumentierung oder Stilvariation war der Künstlerin und der Plattenfirma diese Kompilation der Tränenseligkeit wert."
- Dann hätten doch erst recht alle wieder geschrien, dass sie angeblich nix neues auf die Reihe bringt. Dass diese Compilation (und die bereits anderen in der Tat zahlreich erschienenen) auf dem Mist der Plattenfirma gewachsen waren, vergisst die Nena-Nicht-Mögerin (respektive Autorin). Die einzig von Nena selbst zusammengestellte "Best of" erschien 2010, und meiner Meinung nach war das dann auch tatsächlich auch die gelungenste Zusammenstellung. »):
schön und gut. Erklärt aber immer noch nicht die 5 anderen Best ofs, oder dieses nicht von ihr zusammengestellte Balladen Best of. »):
@fireflyer (« Was muss man denn da groß erklären? Es scheint sich zu rechnen, also wird es gemacht.
@CafPow (« @fireflyer (« "Nicht mal die Mühe (...) einer neuen Abmischung oder einer Aufnahme mit alternativen Arrangements, ungewöhnlicher Instrumentierung oder Stilvariation war der Künstlerin und der Plattenfirma diese Kompilation der Tränenseligkeit wert."
- Dann hätten doch erst recht alle wieder geschrien, dass sie angeblich nix neues auf die Reihe bringt. Dass diese Compilation (und die bereits anderen in der Tat zahlreich erschienenen) auf dem Mist der Plattenfirma gewachsen waren, vergisst die Nena-Nicht-Mögerin (respektive Autorin). Die einzig von Nena selbst zusammengestellte "Best of" erschien 2010, und meiner Meinung nach war das dann auch tatsächlich auch die gelungenste Zusammenstellung. »):
schön und gut. Erklärt aber immer noch nicht die 5 anderen Best ofs, oder dieses nicht von ihr zusammengestellte Balladen Best of. »):
»):
ja klar tuts das. Und vom Kommerziellen her sagt auch niemand was, im Gegenteil, das wird sogar meistens speziell herausgehoben.
die Kritik geht aber eher richtung (nicht vorhandenen) Künstlerischen Anspruch.
einen der best geschriebensten zerisse den ich auf laut.de bisher gelesen habe. weiter so!