laut.de-Kritik

Anarchistische Wut, vertont mit neuen Mitteln.

Review von

"You glorify the past / When the future dries up." ("God Part II" - U2). In 96,9 Prozent aller Fälle stellt ein Comeback eine auf Nostalgie basierende musikalische Luftnummer dar. Heruntergekommene Altherrenbands, abgehalfterte Ex-Teenie-Stars oder Kapellen, die nur noch der große Name mit der Vergangenheit verbindet, feiern eine letzte große Sause mit den Fans, bei der man das Gestern lobpreist und das Konto auffrischt. Nur selten erreichen Musiker das frühere Niveau. Die Fälle, in denen sie sich künstlerisch selbst übertreffen, bleiben dünn gesäte Ausnahmen.

Neneh Cherry könnte es schaffen, zu diesen Ausnahmen aufzuschließen. Nachdem sie 2012 bereits mit den skandinavischen Free-Jazzern von The Thing den düster-schmerzhaften Monolithen "The Cherry Thing" veröffentlichte, folgt nun mit "Blank Project" ihr erster Longplayer unter eigenem Namen seit 1996.

Weit entfernt von der damals zur Schau getragenen Pop-Radio-Verträglichkeit imponiert ihre mittlerweile kompromisslose Einstellung zur Musik. Anstatt alten Formeln einen frischen Anstrich zu verpassen, findet sie einen neuen, intensiveren Zugang zu sich und ihrem Werk.

"Blank Projekt" atmet im selben Rhythmus wie "The Cherry Thing". Die anarchistische Wut bleibt fassbar, nur die Mittel haben sich verändert. Anstatt Free-Jazz bilden nun kalte, mechanische Industrial-Beats die Kulisse. Die minimalistischen Tracks, die aus Cherrys Trauer um ihre verstorbene Mutter entstanden, hören auf die Namen "Naked" oder "Weightless".

Für die markante Produktion zeigt sich Kieran Hebden aka Four Tet verantwortlich, der bereits einen Remix von "Dream Baby Dream" zu "The Cherry Thing Remixes" beisteuerte. RocketNumberNine unterlegen Cherrys stets im Mittelpunkt stehende Stimme mit Instrumentals voll kraftstrotzender Authentizität.

"With my two hands across the water / With my two feet in the sea / My fear is for my daughters / But good God will show them me." Hüllenlos stellt sich die Sängerin dem Hörer im Opener "Across The Water". Nur spärliche Schläge und Rasseln unterstützen ihre Beat-Posie. Mit den einfachsten Mitteln umwickeln sich Jazz, Trip Hop und Post-Rock. Ihr schnörkelloser Gesang verbindet die Trauer um ihre Mutter mit der Sorge um die eigenen Kinder. "I'm still here, but I keep you deep inside."

Verzerrte Bässe schlagen wie ein Gewitter über den Titelsong "Blank Project" ein. Aus hektisch lodernden Flammen erhebt sich Cherrys schlängelnde Stimme. "Leave me alone but don't leave me lonely." Jeder Querschläger in diesem tollwütigen Track trifft ein anderes Opfer: Weiblichkeit, Sterblichkeit, Menstruation oder Ehemann Cameron McVey. "On the 28th day / He is my victim / He is my saviour / He breaks my fall."

Von den eben noch übelgesinnten RocketNumberNine-Maschinen bleibt im ätherischen "422" nur eine pochende Meditation übrig. In "Spit Three Times" schleicht die paranoide Atmosphäre auf einem Bein humpelnd näher und näher an den Zuhörer. Skelettierte Beats und dämonische Synthesizer kreuzen ihren Weg mit Aberglauben und Besessenheit. "Monkey's on my back holding me down / Black dog's in the corner looking up at me."

Noch immer schlummert in Cherry die junge Frau, die einst hochschwanger mit ihrem Hit "Buffalo Stance" über die Bühne von "Top Of The Pops" tanzte. Zweimal streift sie auf "Blank Project" den Pop. Sieben Sekunden entfernt schlägt ihre Stimme in "Naked" Purzelbäume zu zaghaften House-Einflüssen und schlitterndem Elektro.

Wie eine ältere Schwester nimmt sie in "Out Of The Black" Gaststar Robyn bei der Hand. Gemeinsam stolziert das ebenso stolze wie bissige Schwesternpaar über eine schmutzige Bassline. Ein gedämpfter Club-Pop-Track in unheimlicher Kulisse, der sich mehr und mehr zu einem Gassenhauer entwickelt.

Abstrakt bis grotesk endet "Blank Project" mit dem in einem Take aufgenommenen Elektro-Jam "Everything". Zu gebrochenen Drums, fusseligen Hi-Hats und wunderlichen Stimmsamples berichtet Cherry von "crack-smoking hussies" und "medical check-ups". Mehr und mehr verfällt sie dem Wahnsinn in ihrer Stimme, bis sie letztendlich wie eine besessene Ziege gackert.

In der simplen und energischen Produktion von "Blank Project", die auch von ihren kongenialen Partnern lebt, zeigt sich die Schwedin als Individuum, das einen feuchten Kehricht auf Genres gibt. Nur selten lässt die minimalistische Herangehensweise etwas Eintönigkeit zu.

Ihre anmutige Soul-Stimme lässt sie auf erdrückenden Industrielärm und spröde Elektronik treffen, ohne dabei ihre Wärme sie verlieren. In "Cynical" singt sie "Don't think I'm so cynical now / I've found my sound." Ich hoffe, es ist noch lange nicht so weit und Neneh Cherry bleibt weiterhin eine Suchende, der auf ihrem Weg solch packende Longplayer gelingen.

Trackliste

  1. 1. Across The Water
  2. 2. Blank Project
  3. 3. Naked
  4. 4. Spit Three Times
  5. 5. Weightless
  6. 6. Cynical
  7. 7. 422
  8. 8. Out Of The Black ft. Robyn
  9. 9. Dossier
  10. 10. Everything

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