laut.de-Kritik
Von TikTok zum Tabubruch: düster und unerwartet provokant.
Review von Robin KirkerNessa Barrett, die einst als tanzende TikTokerin berühmt wurde, macht jetzt ernst – und wie! Mit "Aftercare" legt die 22-Jährige ihr zweites Album vor und zeigt, dass sie weit mehr als Teenie-Pop im Repertoire hat. Optisch kaum wiederzuerkennen, liefert sie auch musikalisch eine Überraschung nach der anderen. Vergesst die alte Nessa – diese Frau kann anders!
Statt eines klassischen Openers wie auf dem Vorgänger "Young Forever" eröffnet "Aftercare" mit dem düsteren, fast gespenstischen Titeltrack. Ein gesprochenes Intro, das klingt, als hätte jemand ein Band rückwärts abgespielt. Doch bevor sich die Gänsehaut festsetzt, holt Nessa uns mit verträumten Klängen wieder zurück. Wer jetzt auf rosaroten Zuckerwattensound hofft, wird spätestens beim nächsten Song eines Besseren belehrt.
"Pornstar" schlägt ein wie ein Blitz. Ein fast schon böser Beat trifft auf Nessas sanfte, engelsgleiche Stimme – ein Kontrast, der fesselt. Textlich geht es ohne Umwege zur Sache: "I wanna hear you talking dirty" – Nessa nimmt kein Blatt vor den Mund. Der Titel ist Programm, und die leisen Schreie am Songende sorgen für eine Gänsehaut der anderen Art.
Als Provokationspause dient der melancholisch-düstere und doch beruhigende Lovesong "Heartbeat". Aber auch hier bleibt es nicht harmlos: "Put me on my knees and lock the door / I'm yours." Obszön, ja, aber keine reine Provokation, denn sie thematisiert ein Gefühl, das viele junge Frauen kennen: Die Angst, nur bei körperlicher Nähe geliebt zu werden. Nessa Barrett hat zudem Borderline, eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, bei der die Betroffenen sich oftmals übersexualisieren, weil sie gelernt haben, dass sie nur so jemanden an sich binden können.
Bei diesem Krankheitsbild geht es auch um Schwarz-Weiß-Denken. Entweder alles ist super oder eben das Gegenteil. In "Disco" befindet sich Nessa klar in einem Hoch. Während sie in dem Song zuvor darum flehte, ihr Herz wieder zum schlagen zu bringen, geht es nun darum, das Nachtleben zu erforschen. Und der Beat spiegelt genau das wider. Barrett scheint mit ihrem Album eine Geschichte zu erzählen. In "Passenger Princess" spielt sie darauf an, die Beifahrerin ihres Geliebten zu sein. Auch das Motiv des Herzschlags findet sich in dem Text wieder: "Can you feel my heartbeat, when you hittin full speed". Es scheint, als hätte sie jemanden gefunden, der ihr taubes Herz wieder entfacht.
"Mustang Baby" gibt Aufschluss darüber, wer das sein könnte. In den sozialen Medien wurde schon lang gemunkelt, ob der Newcomer Artemas nicht ein Verhältnis mit ihr haben könnte. Der gemeinsame Song bietet natürlich weiteren Zündstoff. Leider tritt Artemas nicht im gewohnten Stil auf. Er hört sich eher wie eine schlechte Lil Peep-Version an ... Schade.
Mit Zeilen wie "Fuck me on the 101" findet Nessa ihre Stimme in einer neuen, selbstbewussteren Richtung, obwohl sie in einem Interview gestand, dass sie unsicher war, das Wort zu benutzen. Die Liebeserklärung in "Russian Roulette" begleitet ein sanftes Klavier und melodische Streicher: "Darling, I would risk it all for you". Und wie man das so kennt, endet der Song mit dem Drehen der Trommel eines Revolvers und ihren Worten "Love is Russian Roulette".
Na noch da? "S.L.U.T." weckt all diejenigen auf, die bei den Lovesongs abgeschaltet haben. Der provokante Titel steht für "Sex, Lies, Ugly Truth" – ein cleveres Wortspiel. Doch auch der Ausdruck selbst ist gemeint: "Wanna be a slut for you". Wie schon "Heartbeat" rutscht der Track in die Schiene der Übersexualisierung, dennoch mit dem Wunsch nach mehr: "Don't call it love, that's not enough".
Spielen die vorherigen Songs eher auf eine feurige Affäre an, klingt "Babydoll" nach einem klassischen Revengesong, wirkt wie eine ironische Gegenüberstellung. "I'm still your Babydoll" sagt demnach wohl eher aus: Hey schau mich an, schau an, was du mit mir gemacht hast. Zum Ende hin wird die Melodie aggressiver und Barrett schreit "I'm your Babydoll"! Nahtlos geht es in "Given Enough" über, die Message ist klar: Da ist jemand, der ihr alle Kraft geraubt hat, bis nichts mehr da war. "Bitin' my neck 'til there's nothin' left"- das Vampir-Motiv, das schon Olivia Rodrigo einen Mega-Hit bescherte.
In "Edward Scissorhands" erwähnt sie einen 17-jährigen Mann. Die Referenz zur Kultfigur ist perfekt gewählt: Wie Edward fügt auch er ihr Verletzungen zu, ohne es zu wollen. Scheinbar verarbeitet sie hier eine frühere Beziehung. Wer damit gemeint ist, erfahren die Hörer*innen nicht. Schon in vergangenen Songs wie "American Jesus" thematisierte sie Ex-Beziehungen, damals zu Jaden Hossler. Ob das diesmal auch so ist? Dass sich das Album mit wichtigen Themen im Leben einer Heranwachsenden befasst, war schon vor "Glitter And Violence" klar. Dennoch trifft dieser Track direkt in die Magengrube und ruft Ekel hervor. Die Geschichte über eine junge Frau, die sich verkauft und über Personen, die alles dafür tun würden, sie in einen Käfig zu sperren.
In "Pins And Needles" verarbeitet sie abermals eine vergangene Beziehung. Diesmal gibt sie jedoch einen klaren Hint, um wen es sich handeln könnte: "We've never had sex, we never got tattoos". Jaden Hossler und sie stachen sich 2021 ein Partnertattoo mit der Inschrift "It's you I welcome death with", welches Jaden mittlerweile durchstreichen ließ. Die Vermutung liegt also nah, dass sie mit ihm hier abrechnen will. Bei den letzten Liedern verliert die Geschichte ihren roten Faden. "Stay Alive" überzeugt mit einem starken Beat, der so mitreißend ist, dass der Text in den Hintergrund gerät. Obwohl die Songs eigentlich lyrisch nichts miteinander zu tun haben, geht auch "Stay Alive" in "Dirty Little Secret" nahtlos über. Nessa Barrett gelingt mit diesem Album der Absprung aus ihrer TikTok-Karriere in die Musikwelt der Erwachsenen.
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