laut.de-Kritik
Der letzte gemeinsame Wille einer heillos zerstrittenen Band.
Review von Michael Schuh2005 war die Welt noch in Ordnung: Junge Bands wie The Killers und The Bravery ließen den Namen New Order in jedem zweiten Interview fallen und die bandinternen Streitigkeiten der Dance-Rock-Pioniere bewegten sich noch auf einem Maß, das eine gemeinsame Albumproduktion zuließ. "Waiting For The Siren's Call" war ein gutes Album, das dem fulminanten Vorgänger "Get Ready" (2001) zwar nicht das Wasser reichen konnte, den eingeschlagenen Weg aber konsequent fortsetzte. Dass mit Phil Cunningham ein junger Gitarrist ins Boot kam, der die pausierende Keyboarderin Gillian Gilbert ersetzte, hörte man dem Ergebnis nicht an. Es sollte die letzte friedliebende Umbesetzung von New Order sein.
Als die anschließende Welttournee längst abgeschlossen ist, lässt Bassist Peter Hook 2007 die heile Welt mit dem Satz implodieren, New Order hätten sich aufgelöst. Die heftigen Dementis der anderen führten zu einem bis heute beispiellosen Beef mit den folgenden Wegmarken: Hook verfasst ein Buch über den gemeinsam betriebenen House-Club Hacienda in Manchester, New Order bezichtigen ihn der Geldmacherei, Hook gründet mit seinem Sohn die Joy Division-Coverband The Light, New Order bezichtigen ihn der Geldmacherei, Hook weitet das Live-Konzept auf New Order-Alben aus, New Order bezichtigen ihn der Geldmacherei, Hook schreibt ein Joy Division-Buch, New Order bezichtigen ihn der Geldmacherei, New Order treten ohne Hook live auf, Hook bezichtigt sie der Geldmacherei.
Dieser Geschichtsschreibung folgend, nimmt "Lost Sirens" eine absolute Ausnahmestellung ein: Sowohl Peter Hook als auch New Order finden die Veröffentlichung wichtig. Hook ist nach eigenen Angaben an einem sauberen Schlussstrich unter das gemeinsame Kapitel gelegen, für New Order ist "Lost Sirens" der Übergang in ein neues Kapitel: Mit Bassist und Hook-Nachfolger Tom Chapman aus Sänger Bernard Sumners Zweitband Bad Lieutenant arbeitet die Gruppe derzeit an einem neuen Studioalbum.
Somit ist das offiziell als "Mini-Album" betitelte "Lost Sirens" ein weiterer Blick ins bereits ausladend geöffnete New Order-Archiv, doch entgegen der üblicherweise schnell aufkommenden Skepsis (Geldmacherei!), ist dieser letzte gemeinsame Wille der Gruppe durchaus veröffentlichungswürdig.
Kaum schmiegt sich Hooks luftiger Trademark-Bass in "I'll Stay With You" an die hereinbrechenden Gitarren von Cunningham und Sumner, fragt man sich, ob man es hier wirklich nur mit schnöden Outtakes zu tun hat. Der Song weckt gute alte "Crystal"-Assoziationen und weiß auch mit einer gelungenen Sumner-Gesangslinie zu überzeugen. Wohl dem, der es sich leisten kann, solche Songs für ein Studioalbum abzulehnen.
Beim Refrain des poppigen 80er-Stücks "Sugarcane" tendiert "Lost Sirens" dann sogar in Richtung einer "Greatest Hits"-Veröffentlichung: Catchy Melodie in der Strophe, super Synth-Bass und dann eben einer dieser Hymnenrefrains, die erst beim dritten oder vierten Hören verfangen. Warum es das ziellos dahin plätschernde "Recoil" seinerzeit nicht aufs Album schaffte, ist dagegen gut nachvollziehbar.
Auch "Shake It Up" braucht streng genommen kein Mensch, außer man möchte sich noch einmal genau vergegenwärtigen, wie wunderschön Peter Hook seinen Bass zu stimmen wusste. Aber den hört man auch auf dem gelungenen "I've Got A Feeling" heraus, das mit einer Laut/Leise-Dynamik die Dramaturgie steigert und nur im Refrain die Gitarrenfront auspackt. Das bereits von der Joy Division/New Order-Retrospektive "Total" bekannte "Hellbent" stellt nicht nur die 2005er Single "Krafty" locker in den Schatten, sondern mutierte 2012 zum Radio-Hit und gab damit erst den Ausschlag für die "Lost Sirens"-Veröffentlichung.
Mit dem um die Dancehall-Beats entschlackten Outtake des bekannten Albumtracks "I Told You So" endet eine Zusammenstellung an zeitlosen Songs, die noch keinerlei Anzeichen des kurz bevorstehenden Zerwürfnisses in sich tragen und die einen langen Schatten über das kommende New Order-Album werfen dürften. Fans werden sich auch acht Jahre später glücklich schätzen, dass man ihnen diese Studioraritäten nicht vorenthalten hat.
5 Kommentare
Wenn ich das richtig verstanden habe wurde das Album von 2003 bis 2004 aufgenommen, aber erst in diesem Monat released aufgrund eines Streits in der Band.
Der erste Musikalische Höhepunkt des Jahres!
Unerwartetes Highlight, für mich deutlich besser als die "Sirens Call..."
Ich find's scheiße.
toller absatz mit der "geldmacherei", don