Ein überdurchschnittlich begabter Kader lässt Deutschland träumen: Im Halbfinale setzten sich neun Acts durch, darunter natürlich Abor & Tynna.

Köln (mra) - Ein letztes Mal blickte Massengeschmacksexperte Stefan Raab für uns als Juror in die ESC-Glaskugel. Seine Gier nach dem Sieg ist echt, das spürt man. Der 58-Jährige suche bei "Chefsache ESC 2025 – Wer singt für Deutschland?" nach dem Song, "der die Leute berührt und der leicht wieder zu erinnern ist." Bevor die Zuschauer im Finale am kommenden Samstag um 20.15 Uhr selbst den deutschen ESC-Beitrag auswählen dürfen, lag die Aufgabe im Halbfinale noch einmal bei seiner Jury. Die besteht neben Raab wieder aus Elton sowie Sängerin Yvonne Catterfeld. Als Gastjuror gesellte sich Max Giesinger dazu, die Moderation übernahm Barbara Schöneberger. Von 24 Teilnehmern blieben am Ende neun fürs Finale übrig, die wir euch hier vorstellen.

Zum Einstieg putzen Feuerschwanz mit dem nervig-eingängigen Ohrwurm "Knightclub" die Gehörgänge durch. Dazu gibt's wieder harte Riffs, mehr Bühnenfeuer und frei von der Angst, albern auszuschauen, großes Entertainment. Schönebergers Frage, ob es nicht schwer sei, den Anfang zu machen, kontert die Band selbstsicher: "Also wir fanden's geil, oder?" Die Antwort ist Jubel, auch Raab ist zufrieden. "Das is schon n Spektakel, ne?". Nur ist das mit dem Metal beim ESC so eine Sache. Vor allem in Deutschland ist die Erinnerung an den kläglichen letzten Platz von Lord Of The Lost vor zwei Jahren noch frisch, Lordis Sieg dagegen ist bald zwanzig Jahre her.

Benjamin Braatz zeigt, dass er sich nicht allein auf sein Songwriting verlässt. Erst sitzt er singend mit Gitarre im Publikum, dann schlendert er durch den Saal, schlussendlich erklettert er einen übergroßen Stuhl auf der Bühne - ohne eine Note zu verpassen. Sein Song "Like You Love Me" ist ein romantisches Throwback in die Siebziger. Braatz macht seine Sache gut, aber die Konkurrenz ist laut und plakativ. Wer neben einem Tommy Cash oder einer Erika Vikman gehört werden will, muss mehr vom Stapel lassen.

Eine melancholische Stadionhymne zum Feuerzeuge rausholen liefert die Band COSBY aus München. Im Text trauert Sängerin Marie Kobylka ihrem toten Vater nach. Bei Jurorin Catterfeld schlägt das an, sie ist zu Tränen gerührt. Raab findet, man könne mit dem hier auflaufenden Kader normalerweise drei Jahre Vorentscheid machen. Wo er recht hat: Moss Kena hat einfach das Format. Wer am 18. Mai unter der Überschrift "ESC-Gewinner" in seine durchdringenden Augen blickt, würde sich nicht wundern. Kena nimmt den Raum mit seiner Stimme und seiner Aura ein. Die wirkt auch auf Schöneberger, die ihm, kaum ist der Song vorbei, mit den Worten "Mein Gott, lasst mich zu diesem Mann" entgegen eilt. Elton findet den Beitrag "fast zu gut für den ESC". "Nothing Can Stop Love" ist dennoch leider ein gutes Stück von aufregendem Songwriting entfernt. Moss Kena ist der beste Kandidat, aber leider nicht mit dem besten Song.

Leonora kann sich auf der Bühne das Lächeln nicht verkneifen, das steckt an. Passend dazu ist ihr Song "This Bliss". Den beschreibt sie als "warme Umarmung", ein "Komm lass uns zusammen gut fühlen". Das funktioniert auch, Song und Performance sind rund. Es fehlt aber der große Moment, mit dem sich der Song dem Zuschauer unweigerlich aufdrängt. Der abschließende Wechsel in die höhere Tonlage ist gesangstechnisches Lowlight. Bei ihrer Finalperformance muss die Sängerin aus Solingen noch eine Schippe drauflegen.

Weitaus schwerer kann man sich dem Wiener Geschwisterduo Abor & Tynna und ihrem Song "Baller" entziehen. Die "Ballalala"-Hook brennt sich ins Hirn, ob man will oder nicht. Endlich ein Track, der guten Gewissens als modern bezeichnet werden kann. Die wahrscheinlich beste Chance der Deutschen aufs Siegertreppchen ist dabei an ein dickes Aber geknüpft. Die Live-Performance muss im Finale an allen Ecken und Enden aufdrehen. Mehr Präsenz von Tynna, bessere Einbindung von Bruder Abors E-Chello und ein spektakuläreres Bühnenbild. Dann kann es klappen.

Im Gegensatz zu ihrem ersten Auftritt hat Julika mit "Empress" schon ein gutes Stück aufgedreht. In schwarzem Federkleid steht sie auf der Bühne, Elton bezeichnet ihre klare Stimme als göttlich. Auch Raab kann sich vorstellen, "dass viele Leute mit sowas etwas anfangen können. Julikas Auftritt ist gesangstechnisch eins der Highlights der Show." Tik-Tok-Star LYZA überrascht mit dem Countrysong "Lovers On Mars", der an Amy MacDonald erinnert. Ihr Auftritt ist cinematisch, der Gesang top, der selbstgeschriebene Song okay. Für einen ersten Platz beim ESC ist er wahrscheinlich nicht innovativ genug.

Die britische Band The Great Leslie mit einem deutschen Member bietet den punkigen Song "These Days" an. Nicht nur Juror Giesinger erinnert das an Måneskin, die mit ähnlichem Sound 2022 den Sieg holten. Die Bühnenperformance ist professionell, das Gitarrenriff macht Spaß. Es ist aber kein gutes Zeichen, wenn die Band nach kurzer Stille noch einmal den Refrain spielt und dabei mäßig erfreut. Stefan Raabs Appell an alle Ausgeschiedenen, sich im nächsten Jahr erneut zu bewerben, ist keine Floskel. Das deutsche Publikum hat im Finale am 1. März die Qual der Wahl, denn der Song, bei dem sofort klar ist, "der isses", fehlt. Heißester Anwärter ist vermutlich Abor & Tynnas "Baller". Die finnische Konkurenz legte mit Erika Vikmans "Ich Komme" aber stark vor.

Die Juryentscheidung sorgte derweil für zwei große Aufreger: Das Ausscheiden der Sängerin Cage sowie der Metalband From Fall To Spring sorgte für Unmut bei den Zuschauern. "Steht ja völlig außer Frage, dass du eine der talentiertesten, wenn nicht die talentierteste Sängerin Deutschlands bist", urteilte Chefjuror Raab. Das allein sollte für ein Weiterkommen ja genügen, oder? Doch die Jury überstimmte ihn, Cage schied aus. Zugegeben, der Song hat ein eher schwaches Instrumental und bleibt nicht wegen seiner Melodie im Kopf, sondern wegen Cages herausragender Gesangsvorstellung. Die Reaktionen im Netz über ihr Ausscheiden fielen, höflich ausgedrückt, negativ aus.

Für die Saarländer From Fall To Spring hat sich die Vorentscheid-Teilnahme dennoch gelohnt. Nach ihrem ersten Auftritt bot das Wacken Open Air sofort einen Platz auf dem Flyer an, außerdem werden die nächsten Konzerte in deutlich größere Hallen verlegt. Auch wenn ihre Fans das Jury-Votum in Social Media heftig kritisieren, im direkten Vergleich können wahrscheinlich mehr Leute mit Feuerschwanz etwas anfangen. Ein generelles Stimmungsbild lässt sich hiervon jedoch nicht ableiten: Metalbands wissen einfach, wie man die eigenen Fans mobilisiert. So dominierten die Anhänger von From Fall To Spring schon im Vorfeld laut die Kommentarspalten. Ebenfalls ausgeschieden sind JALN ("Weg Von Dir"), Cloudy June ("If Jesus Saw What We Did Last Night") und Jonathan Henrich ("Golden Child").

Weiterlesen

2 Kommentare

  • Vor 3 Stunden

    "Ein überdurchschnittlich begabter Kader lässt Deutschland träumen" iVm. "Fast zu gut für den ESC".

    Absolute Vorsicht! Überqualifikation führt in vielen Fällen zu Demotivation, Langeweile und Underachievement. Wenn man dann das Problem zusätzlich offen kommuniziert, kann das zu Mobbing und Diskriminierung führen, was wiederum die Demotivations-Spirale in Gang setzt. Ich würde mir demnach hier keine allzu großen Hoffnungen machen, da Menschen mit Begabungen oft scheitern, insbesondere auch, wenn spezielle Wettbewerbsmodalitäten vorliegen. Ich kann hier nur nochmal den gut gemeinten Rat aussprechen: so zu tun als wäre man minderbegabt ist die einzige Lösung, um aus der Sache irgendwie heile rauszukommen. Ich würd' jemanden von den Durchschnittlichen per Dekret hinschicken.

  • Vor 3 Stunden

    Der Baller Song ist solide, alles andere ist wirklich der seichteste und 08/15-ste Schrott dem Germany schon 30 Jahre lang schickt und immer auf den letzten Plätzen landet (Lena ausgenommen). Es reicht nun mal nicht ein Max Giesinger-Klon mit einem netten Song zu schicken. Diese Menschen verantwortlich für den deutschen ESC, lernen wirklich nie dazu.