Die amerikanischen Industrial-Helden um Trent Reznor feiern ihr Live-Comeback in Deutschland: intime und spektakuläre Momente.
Köln (rnk) - Zu lange, viel zu lange mussten Fans darauf warten, dass Nine Inch Nails wieder auf deutschem Boden spielen. Auch länger her ist "Hesitation Marks", das letzte reguläre Album der Band, denn seit zwölf Jahren gibt es nur EPs oder die Fortführung der "Ghosts"-Reihe, die eher Ambient-Fragmente als wirkliche Alben darstellen.
Bandkopf Trent Reznor arbeitete in den vergangenen Jahren lieber mit seinem Freund Atticus Ross an Soundtracks, darunter auch für Familien-Unterhaltung, wie der Pixar-Animationsfilm "Soul". Ein interessanter Weg für einen Mann, der noch in den Neunzigern als Bürgerschreck galt und mit aufsehenerregenden Musikvideos die Zensurbehörden schockte. Der Cut folgte um die Jahrtausendwende, als Reznor nach dem immer noch großartigen Seelen-Striptease "The Fragile" sein Leben endgültig ordnete.
Ein Querschnitt der wilden Jahre
Ein Glück, denn in den dunkelsten Momenten fehlte nicht mehr viel und eine Überdosis hätte dafür sorgen können, dass wir nicht einen glücklichen Vater von mittlerweile fünf Kindern auf der Bühne erleben dürfen. Gott bewahre uns vor dem nächsten Biopic, doch gerade die Neunziger würden hier einen ungemein mitreißenden Stoff für einen Mix aus Selbstzerstörung und natürlich großartigen Werken wie "The Downward Spiral" liefern.
Aus einem Song dieses Albums stammen die Zeilen "All the pigs are all lined up/I give you all that you want/Take the skin and peel it back/Now doesn't it make you feel better?". Eine damals zynische Abrechnung mit den eigenen Fans, vor denen er sich nahezu enthäutete und sein Privatleben für das große Entertainment freilegte. "Peel It Back" heißt auch diese Welt-Tour, die einen guten Querschnitt der wilden Jahre von "Pretty Hate Machine", "The Downward Spiral", aber auch einzelnen Songs von "Year Zero" liefert. Das apokalytische Album wirkte damals noch wie ein lustiger Blockbuster, mittlerweile wäre es die perfekte Untermalung für die fast älltäglichen Brennpunkt-Sendungen.
Trents Stunt
Wer nicht komplett auf den Überraschungseffekt setzte, checkte zuvor diverse Foren. Und wie in London auch eröffnet der Techno-Künstler Boys Noize auf einer kleinen, boxenähnlichen und eingenebelten Bühne ein Set aus harten EBM-Sounds, darunter auch ein Remix des Fehlfarben-Songs "Paul Ist Tot". Das zumeist ältere Publikum schätzt die Zeitreise in die Achtziger, genau dort, wo der kühle Industrial-Sound endgültig und auch dank des NIN-Debütalbums "Pretty Hate Machine" erstmals von einem größeren Publikum wahrgenommen wurde.
Alex Rhida durfte bereits Songs um "Challengers"-Score bearbeiten, und auch heute wird er im Laufe des Abends noch einmal für einen weiteren Auftritt auf eine Bühne zurückkommen, die wie ein dunkler Quaderstein in der Mitte des Saals und noch komplett verhüllt platziert ist. Den Spoiler, dass hier im direkten Anschluss an den letzten Ton des Boys Noize-Auftritts Trent himself am Piano sitzen wird, kannten einige schon, den Rest überrascht der Stunt. Solche Momente mag der Mann, der schon zu "Year Zero"-Zeiten ohne Vorwarnung und noch bei vollem Saallicht auf die Bühne stürmte.
Der Abend beginnt allerdings ruhig, aber nicht weniger intensiv mit einer Pianoversion von "Right Were It Belongs". Wie einfach mal geschätzt 14.000 Menschen in der nicht ganz ausverkauften Lanxess Arena in Ruhe verharren, intensiviert diesen Moment ungemein. Es gibt bereits die "Still"-EP mit Stripped-Down-Versionen von Nine Inch Nails-Songs, aber das mal live zu erleben, ist wirklich schön. Zumal Reznor keine großen Diven-Momente aufführt, sondern selbst in diesem wirklich unpersönlichen Rahmen in sich selbst abtaucht.
Es ist gerade diese Unverstelltheit, die seine Fans so lieben. Da sitzt also dieser Mann unter einem minimalistischen Kunstlicht-Strahler und wirkt geradezu zerbrechlich. Ein Mann der großen Worte außerhalb der Songs war er nie, und eigentlich braucht es keine großen Ansagen, die den Moment zerstören.
Elektro für den Körper
Nach weiteren ruhigen Versionen von "Ruiner" und "The Fragile" wechselt Trent mit Fink, Ross und Cortini auf die noch verhüllte Hauptbühne. Und nach den ersten Klängen von "Eraser" ist klar, nun beginnt der laute Teil des Abends. Die Christo-ähnliche Bühnenverhüllung fällt und offenbart den Blick auf eine Konzertbühne, auf der mehrere, fast durchsichtige Vorhänge oder eher Leinwänd um die Band platziert sind. Auf diese wird bei "Wish" und "Copy Of A" eine Mischung aus hektischen Steadycam-Aufnahmen und Laser-Show projiziert.
Die ersten Fans auf den Rängen erheben sich und tanzen begeistert, ein bisschen Luft anhalten ist dennoch angesagt: In London gab es genau an dieser Stelle Technikprobleme, die den Perfektionisten Reznor massiv ärgerten. Ein Glück, dass in Köln alles rund läuft, sieht man von dem etwas dröhnenden Sound in der Arena ab. Der war auf den Rängen, gerade seitlich der Bühne, nie sonderlich gut, dafür bekommen die Massen vor der Bühne die komplette Wucht der Songs zu spüren.
Crowdsurfer lassen sich nach vorne tragen, auch ein kleiner Pit entsteht. Gut, dass war alles schon mal ekstatischer. Aber die meisten, die den Weg der Nine Inch Nails schon seit den frühen Neunziger verfolgen, sind nun mal nicht mehr die Jüngsten: Es gibt überwiegend fröhliches Geschiebe, ansonsten sieht man rhythmisches Kopfnicken.
Techno-Abriss auf der Nebenbühne
Mit "Gave Up" endet dieser Part, und es geht zurück auf die B-Stage in der Hallenmitte. Nun steht Alex Ridha a.k.a. Boys Noize mit auf der Bühne, "Vessel", "Only" und "Came Back Haunted" werden unter Stroboskop-Geflacker zu einem technoiden Miniset. Über den Köpfen der Herren leuchtet eine Lightshow, die irgendwie an das Filmset von "Alien 3" erinnert oder an die Ästhetik von "Closer". Die Cyberpunk-Ästhetik passt perfekt zum Sound, der eher an Clubs wie Tresor oder Berghain erinnert. Reznor, Ross und Rhida haben sichtlich Spaß und schrauben begeistert an den Knöpfen.
Ende mit Schmerzen
Der Weg führt an den Fans vorbei zurück auf die Hauptbühne. Die transluzenten Stoffvorhänge sind derweil verschwunden. Dafür gibt es zu "Heresy" und "Closer" nochmal alles, was eine Laser-Show heute so kann. Aber dies wird fast unwichtig, wenn Trent für seine Verhältnisse doch in Plauderlaune verfällt und von einen Treffen mit seinem Idol David Bowie erzählt: Der Moment, bei dem nicht wenige schon begeistert aufschreien.
Man ahnt bereits, dass das in den letzten Jahren selten gespielte Stück "I'm Afraid Of Americans" aufgeführt wird. An der Stelle ein kleiner Werbeblock: Ich durfte für die großartige Ausstellung "World Of Music Videos" einen Text zu dem ebenfalls genialen Musikvideo schreiben.
"Hurt" beendet das Live-Comeback in Köln. Und bis auf genau einen Witzbold, der in die kurze Stille "Slayeeeerr" hineinbrüllt, erlebt man das emotionale Ende eines Konzerts, bei dem die Musik und nicht Choreografien, sieht man von dem spektakulären Licht-Designs mal ab, im Vordergrund stand. Und man hatte schon fast vergessen, wie sich die vom Rundfunk totgedudelte Johnny Cash-Version langsam in die Seele hineingraben kann.
Hier braucht es keine Effekte, nur einen Sänger, der über sein verdammtes Leben und die verlorensten Momente singt. Die Hoffnung lag damals mit "If I could start again/A million miles away/I would keep myself/I would find a way" noch im Konjunktiv. Ein Glück, dass er seinen Weg gefunden hat, und wir im Zeitalter der Instagram-Fake-Emotionen so etwas noch erleben dürfen.
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