Mit Shirin, Cro oder Seventeen hatte das Publikum Spaß. Aber es hatte den "200€ für eine gute Zeit"-Kaufvertrag halt auch schon unterschrieben.
Berlin (ynk) - Es ist unerwartet schwer zu greifen, was das Lollapalooza in Berlin eigentlich sein möchte. Klar, die Marke hat eine kredible Vergangenheit. Was mal als Abschiedstour für Jane's Addiction angedacht war, wurde zu einem großen Tour-Spektakel, das in den Neunzigern die neue Welle von alternativer Musik als Mainstream-Faktor definiert hat. Die Butthole Surfers oder Siouxsie And The Banshees als Headliner – logisch, dass man damit eine gewisse Legacy aufbaut.
Ob und inwiefern Lollapalooza sich in Tradition dieser Festival-Reihe sieht, bleibt schleierhaft. Die Extravaganza am Berliner Olympiastadion punktet zwar mit sehr guter Organisation, mit wirklich angenehm aufgebauten Gelände, guter Infrastruktur. Aber am Ende des Tages bietet sich hier doch vor allem eine Konsumhölle, deren Line-Up wie völlig wahllos aus dem Radio gegriffen wirkt.
Es gibt kein vereinendes Gefühl, die Devise lautet mehr: "Für jeden was dabei". Stage um Stage kristallisiert sich dieses seltsame Gefühl heraus, dass zwar jeder Artist ein spezifisches Set an Hardcore-Fans dabei hat, die konsequent die ersten fünf bis zehn Reihen vor der Bühne ausfüllen. Man muss aber nicht weit laufen, um dann bei einem großen Blob an "Den Namen habe ich schon Mal gesehen, kann man sich ja mal angucken"-Hörer*innen zu verbleiben.
Unmotiviertes Getapse von links nach rechts
Entsprechend bleiben die Eindrücke all over the place. Besonders am ersten Tag dominierten eher Tiefen als Höhen. Louis Tomlinson spielte das erste von zwei wirklich mageren Sets ehemaliger One Direction-Mitglieder. Zwar traf man auf dem Festival auf überraschend viele Louis-Stans (die sich, so habe ich mir erklären lassen, als Fandom-Name sich nicht Louisvilles oder so nennen, sondern "Louis", im Plural. Come on, try harder), aber auch trotz begeisterter Lobesreden fällt es schwer, dem unmotivierten Getapse von links nach rechts zu großen Mengen Playback all zu viel abzugewinnen. Selbst seine Reden zwischendurch klangen demotiviert.
Zum Szenewechsel auf die Perry-Stage, auf der den ganzen Tag EDM geboten wurde, fanden sich zeitweise auch eher ulkige Bilder. Da war zwischenzeitlich ein Mann namens Joel Corry, der aussah wie jeder dritte Atze im McFit. Er hat EDM-Remixes von zehn Jahre alten Chart-Songs gespielt, meistens melodramatischen Blödsinn wie Sias "Titanium". Das gab Flashbacks zu süddeutschen Großraumdiscos mit DJ Jeremy. Eine Assoziation, die man von Bühnen dieses Prestiges nicht gerade erwartet hätte.
Shirin David: Zumba-Unterricht für Anfänger
Shirin David sollte dann als Headliner den Wagen aus dem Dreck ziehen, aber auch hier: Arg viel löst sie in der Crowd nicht aus. Ihre Choreo, die ein bisschen nach Zumba-Unterricht für Anfänger aussah, hielt sie gut beschäftigt, eine Übermacht am Mic ist sie weiterhin nicht. Mit der Crowd interagierte sie nur, um einmal einen waschechten Girlboss-Vortrag zu halten, wie ihr Label ja ständig nur Pop für Streaming von uns wolle, sie es denen aber mal so richtig gezeigt hat. Am Ende gab's als große Überraschung Ski Aggu auf "Bauch, Beine, Po", einem Sommerhit des Jahres, der für diesen Status relativ widerstehlich durchgelaufen ist.
Tag zwei korrigierte den durchwachsenen Eindruck des Vortages dann aber doch deutlich. Nothing But Thieves zeigten, wie man eine Crowd für sich gewinnt, auch wenn man nicht gerade vor Heimpublikum spielt. Die Energie der Post-Punker und das sehr routinierte, hungrige Spiel zogen sogar die hinteren Reihen ein bisschen in den Bann. Loyle Carner daraufhin kam vielleicht etwas zu chillig und nischig für die Größe der Bühne, beeindruckte aber dennoch mit Konsequenz, Charisma und astreinem Micskill.
Großereignisse des Nachmittags: Cro und Seventeen
Auf der Perry Stage fanden sich mit Girls Don't Sync deutlich interessantere DJs ein, auch wenn die Anwesenheit innerhalb des Stadions abseits von Martin Garrix als Headliner zumeist eher dünn gesät war. Der darauf folgende Tech-House von Elderbrook war in seiner bombastischen Epik ein bisschen zu viel für meinen Geschmack persönlich, und auch die Crowd war dafür in der Summe wohl einfach nicht ganz druff genug, aber den Qualitätsunterschied merkte man doch wie Tag und Nacht.
Mit Cro und Seventeen als Großereignisse des heißen Nachmittags durfte man auch endlich mal hören, wie diese Crowds wirklich in aufgeweckt klingen. Ersterer beeindruckte nicht nur mit extrem souveränen und charismatischen Performances, auch das Bühnenbild und das Tracklisting brachten ein schönes Level Bubblegum-Psychedelia. Am Ende zeigte sich überraschend, dass sich als sein Signature Song jetzt mit Abstand tatsächlich "Traum" durchgesetzt hat. Die Lyrics dazu kannte quasi jeder. Die K-Pop-Gruppe Seventeen machte dann mit ihrem eineinhalbstündigen Europa-Debüt klar, dass sie die größten Seller der Veranstaltung gewesen sein dürften. Nicht nur sah man Carats generell das Festival dominieren, auch die Stimmung und die Lautstärke ihrer ziemlich imposanten Performance stellte viel anderes in den Schatten.
Highlights und Lowlights, Endstufe kommerziell
Da waren also durchaus genauso musikalische Highlights, wie es musikalische Lowlights im Line-Up gab. Trotzdem lässt sich der Charakter des Festivals nicht anders als ein bisschen wahllos bezeichnen. Ex-One Direction, Mainstream-EDM, One Republic, K-Pop, Afrobeat, Indie: Die ganze Konzeption und das Booking, das fühlt sich alles ein bisschen Spotify-algorithmig an. Als hätte jemand einfach den Durchschnittsgeschmack der Durchschnittberlinerin in nackten Zahlen ausgewertet und dann eingeladen, wen man gerade kriegen konnte. Diesen Eindruck verschärft noch, dass das ganze Gelände schon wirklich Endstufe kommerziell war. Klaro, ein Festival auf die Beine zu stellen, das braucht viel Geld, um sich zu rechnen, und es soll kein Vorwurf sein, dass sie ihre Werbeflächen verkaufen. Aber das Areal fühlte sich doch wie ein Vergnügungspark gewordener Werbeblock an. Hier rennt das Fisherman's Friend-Maskottchen herum, da ist das PayPal-Pissoir. Die verteilten Fächer machen Werbung für einen kommenden Horrorfilm, außerdem konnte man wirklich keine drei Meter gehen, ohne dass einem irgendetwas verkauft werden sollte.
Der Eindruck, der dabei entsteht, wenn man es neben das Publikum legt, das zu großen Teilen immer ein bisschen pflichtschuldig-unmotiviert in der Gegend rumsteht, hat doch ein paar Mal die Frage laut werden lassen: Leute, habt ihr hier gerade Spaß? Woran genau habt ihr gerade Spaß? Leute, die so richtig hart gehen, hat man nur in den sehr kleinen Stan-Arealen vor den Bühnen gesehen. Der Rest bewegte sich in einem sich alle sechzig Sekunden zurücksetzenden Loop aus pflichtschuldig ein bisschen wackeln → sich einmal umdrehen, ob gerade jemand auf einen guckt → pflichtschuldig wackeln → Foto machen.
"Guck mal wo ich gerade bin!"
... und entschuldigt den Boomertalk, aber ich habe noch selten eine Menschenmasse gesehen, die so viele Fotos gemacht hat, nicht nur von den Stages, sondern auch von sich selbst. Es war wirklich zu keinem Moment gegeben, nicht im Hintergrund von irgendeinem Selfie aufzutauchen. Diese ständige Wiederholung zu sehen, wie Leute gelangweilt rumstehen, bis jemand ein Foto machen will, dann diese "Guck mal wo ich gerade bin"-Geste mit aufgesetztem Lächeln: Irgendwie war das schon mit jedem Mal ein bisschen skurriler.
Es bringt die Frage zurück: Was ist denn eigentlich das vielbeschworene Erlebnis, auf so ein Festival zu gehen? Was erlebt man? Hat man da gerade Spaß? Das Lollapalooza hatte definitiv seine Momente, vor allem muss man Kudos für die hochprofessionelle, cleane und sinnvolle Orga geben. Aber der prägende, bleibende Eindruck war doch eine große Menge Menschen, die nicht gerade mitgerissen vor den Bühnen rumstand. Nicht, um es wirklich zu erleben, sondern einfach aus der Fomo heraus, dass man dann ja sagen könne, man habe diesen und jeden Artist, den man ja durchaus kennt, auch mal gesehen.
Ich habe die ganze Zeit zu diesen Menschen gehört: Ich habe auch vor vielen Bühnen semi-anxious rumgestanden, ein bisschen pflichtschuldig mit den Schultern gewackelt und um mich geguckt, ob die anderen gerade bemerken, dass ich nur komisch rumstehe und eigentlich gar nicht so viel Spaß habe. Ich weiß nicht, ob irgendjemand all zu viel gemerkt hat. Die Leute, die man so fragt, sagen definitiv, dass sie gerade Spaß haben. Aber ein bisschen bleibt doch dieser Verdacht, dass sie den Kaufvertrag "200€ für eine gute Zeit" an diesem Punkt halt schon unterschrieben hatten und jetzt die Sunken Cost Fallacy kickt. Aber wenn ich von einer unterwältigenden Show zurück in den Branded Content-Irrgarten oder die Festivalpreis-Food-Trucks getaumelt bin, dachte ich mir doch jedes Mal, dass "Für jeden etwas dabei" das Gegenteil von meinem Lieblingsgenre sein dürfte.
3 Kommentare
Bringing the looza back to Lollapalooza.
Mal wieder schlecht recherchiert. Lollapalooza war nicht das „Europa-Debüt“ von Seventeen, sondern Glastonbury im Juni 2024
Guter Bericht, klingt wie die Hölle, nothing but thieves mal ausgenommen.
Finde insbesondere gut, dass du das Europa-Debüt von wasweißich falsch benannt hast. Mach weiter so! ♥