laut.de-Kritik

Als stünden Santana oder Hendrix im Studio.

Review von

Nigel Kennedy gilt als Popstar, sozusagen als Papageno der Klassik-Szene. Die einen sind von der reinen Power seines Bogens hin und weg. Manchem konservativen Klassikfreund stößt dagegen sein janusköpfiger Charakter auf: Kennedy schert sich beispielsweise wenig um den Dresscode des Klassikbetriebs.

Die Leidenschaft für populäre Musik, vor allem für Jazz, stellt einen der erfolgreichsten Geiger aller Zeiten außerdem unter Generalverdacht (nicht umsonst warnte man ihn früher, jene Vorliebe könne seine Klassik-Karriere ruinieren). Weniger Gewogene stufen seine Ausflüge in Pop- und Rock-Gefilde oder in die osteuropäische Folklore gar als eiskalte Berechnung ein.

Doch Kennedy macht nicht nur auf populär - im Sinne der Erschließung neuer Käuferschichten - er pflegt seit früher Jugend einen heißen Draht zur U-Musik. Betrachtet man die Fotos zu den Sessions für das berühmte Blue Note-Label, auf denen er im Kreise von acht hochqualifizierten Szene-Größen zu sehen ist, mit denen er Standards und eigene Stücke interpretiert, scheint auch offensichtlich, was Kennedy am Jazz genießt: das kreative Zusammenspiel in mehr oder weniger improvisierten Jam-Sessions mit im Prinzip gleichberechtigten Musikern. Kurz: die im Vergleich zur Klassik von Natur aus freieren Strukturen.

Und da geht einiges. Spielt die Violine im Jazz ansonsten eine untergeordnete Rolle, legt Kennedy in "Midnight Blue" oder "I Almost Lost My Mind" Soli hin, als stünden Santana oder Hendrix im Studio. Diese Passagen könnten transkribiert und Rockgitarristen zum Üben vorgelegt werden. Getragen wird "Midnight Blue" hauptsächlich von Lucky Petersons Soulrock-Hammondsound und dem an Synkopen, Ghostnotes und Wirbeln reichen Schlagzeug Jack DeJohnettes. Der Drummer des Keith Jarrett-Trios spielte wie Basser Ron Carter bereits mit Miles Davis zusammen.

Sein notenintensives Spiel zieht sich wie ein roter Faden durch die Platte. Dasselbe gilt für Kennedys Technik, die elektrische Violine wie eine Gitarre einzusetzen. Dabei klingt sie wunderbar trocken und lässt keine Blue Note und keinen Slide aus. Tragende Rollen übernehmen auch die beiden Tenor-Saxofonisten Joe Lovano und JD Allen. Swingt die Harmonik von "Midnight Blue" herrlich schnörkellos, verlangen Kennedy und Lovano dem Hörer beim in Latin-Rhythmen gebetteten "Sudel" einiges mehr an Konzentration ab.

Das von Kennedy geschriebene "Maybe In Your Dreams" lehnt sich dann mit Piano und Tenor-Saxophon entspannt zurück (ähnliches gilt für seine zweite Komposition, das experimentellere "Stranger In A Stranger Land"). Einzig bei der temporeichen Nummer "Expanions" kommen noch Vocals mit ins Spiel. Wobei die Stimme des Gitarristen Raul Midóns eher im Stil eines Instruments auf Kennedys Violine antwortet. Der experimentiert derweil mit dem Effektboard, dass ein Tom Morello seine helle Freude hätte - abgefahren!

Beim prägnanten "Sunshine Alley"-Thema loten Doppelgriffe und Effekte die tieferen Lagen aus. Leichter verdaulich und optimistisch gerät Horace Silvers "Song For My Father", während das träumerische "After The Rain" als Medizin für gebeutelte Seelen verschrieben werden sollte. Zum Schluss präsentiert sich ausgerechnet das Stück von Drummer DeJohnette fast ohne durchgehenden Rhythmus als freejazzige Soundlandschaft ("Song For World Forgivness").

Kennedys musikalisches Talent, das technische Können und seine glühende Liebe zur Musik machen potentiellen Kritikern das Leben schwer und die Platte zum Genuss. Vorausgesetzt, man ist willens, sich über 70 Minuten lang einer Jazz-Platte hinzugeben, auf der ein nicht zu bändigender Grenzgänger zwischen E- und U-Musik den Ton angibt. Als Belohnung wartet auf Klassik- wie Pophörer eine Erweiterung des Horizonts.

Trackliste

  1. 1. Midnight Blue
  2. 2. Sudel
  3. 3. Maybe In Your Dreams
  4. 4. Sunshine Alley
  5. 5. Nearly
  6. 6. Expansions
  7. 7. Stranger In A Stranger Land
  8. 8. Song For My Father
  9. 9. After The Rain
  10. 10. I Almost Lost My Mind
  11. 11. Song For World Forgiveness

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