laut.de-Kritik
"Beg for forgiveness from Jesus": Babymetal können einpacken.
Review von Mirco LeierWenn mir jemand vor drei Jahren gesagt hätte, dass ein verrücktes Youtube-Phänomen names Poppy die neue Dekade mit einem kompetenten Nu Metal-Revival eröffnet, hätte ich ihn gefragt, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Drei Jahre später fresse ich meinen Hut, denn tatsächlich: die 25-jährige Amerikanerin lässt auf ihrem dritten Studioalbum die musikalischen Höllenhunde von der Leine und entwächst endgültig ihrer emotionslosen Androiden-Rolle.
Dabei deutete sich diese Entwicklung schon auf ihrer letzten Scheibe "Am I A Girl?" an. Die letzten beiden Songs standen im starken Kontrast zum Rest der Platte, wirkten in ihrem Wechselspiel aus Nu-Metal-Riffs, Screamo-Vocals und Beach Boy-eskem Pre-Chorus aber ein wenig effekthascherisch. Der Vergleich zu Acts wie Babymetal lag auf der Hand. Doch nach "I Disagree" können die japanischen Kawaii-Metaler einpacken. Obwohl der spielerische Ansatz nach wie vor vorhanden ist, geht Moriah Rose Pereira, so Poppy bürgerlich, dieses Mal noch größere Risiken ein, wagt sich in noch extremere Gefilde.
Der Titel "I Disagree" passt. Wirft man nur einen unvoreingenommenen Blick auf die hier verwursteten Genres, mag man tatsächlich widersprechen: Pop, Nu-Metal, Industrial und Metalcore? Dass kann nicht funktionieren! Doch. Erstaunlich gut sogar. Auch wenn man das Gefühl hat, dass die verschiedenen Einflüsse stets gegeneinander ankämpfen. Einen klaren Gewinner gibt es zwar nicht, aber die halbstündige Schlacht könnte kaum unterhaltsamer sein.
Poppy schlägt ständig Haken und knallt einem neue Stilwechsel vor den Latz, schön veranschaulicht in den eröffnenden drei Songs. Auf ein düsteres Industrial-Intro folgen plärrende Gitarren und ein Chorus, der aus einem Anime-Opening stammen könnte. Dann ein Breakdown im Stile einer Hardcore-Show. Mit dem Titeltrack liefert Poppy anschließend einen relativ gebräuchlichen Nu-Metal-Banger, nur um mit dem Industral-Monster "BLOODMONEY" das musikalische Brecheisen auszupacken. Über verzerrte Noise-Pedals schreit sie "Beg for forgiveness from Jesus the Christ!". Der Song endet (wie auch sonst) mit einem triumphalen Gitarren-Solo.
Lyrisch mag das vielleicht ein wenig gimmicky anmuten. Doch nebst offensichtlich augenzwinkernd gemeinten Momenten wie dem Wechsel zwischen "Bury me six feet deep, cover me in concrete" und "Yummy Yummy Yummy" im Opener, finden sich viele erschreckend persönliche Momente. Diese sind wohl vor allem der Beziehung zu ihrem kreativen Partner Titanic Sinclair geschuldet, von dem sie sich nach jahrelangem emotionalen Missbrauch im Dezember lossagte. Songs wie "Sit / Stay" oder "Anything Like Me" beschreiben Gefühle von Unterdrückung und anschließender Emanzipation.
Musikalisch bleibt Poppy ihrer Linie auch in der zweiten Hälfte treu und lässt keine Stringenz aufkommen. Es finden sich sowohl Verweise auf Marilyn Manson, Rammstein und Korn als auch auf Madonna und Nine Inch Nails. Und auch wenn Songs wie "Nothing I Need" dem Flow der LP ein wenig im Weg stehen, lassen Highlights wie "Fill The Crown", der balladeske Closer "Don't Go Outside" oder das Metalcore-inspirierte "Bite Your Teeth" keine Zweifel daran aufkommen, dass uns Poppy mit "I Disagree" nicht nur eines der interessantesten Genre-Potpourris der letzten Jahre kredenzt, sondern augenscheinlich auch endlich mit ihrem eigenen Sound im Reinen ist.
Wo sich vergangene Projekte eher wie die Produkte ihrer Internet-Persona anfühlten, wirft ihr neues Unterfangen einen Blick hinter den Bildschirm und stellt ihr wahres Ich in den Mittelpunkt. Es bleibt abzuwarten, ob Poppy diesem Sound in Zukunft treu bleibt, oder vielleicht noch weitere scheinbar unmöglich zu vereinende Genres miteinander kombiniert. Nach "I Disagree" ist alles möglich.
9 Kommentare mit 11 Antworten
Also, wissder?!
Du bist digitaler Herpes.
Dieser Kommentar wurde entfernt.
Babymetal können vielleicht einpacken aber was heisst das schon? Mir fällt keine Gelegenheit ein, wo ich mir sowas reinziehen könnte.
Jepp. Kawaii-Pop und Nu-/Djent-Metal zu mischen ist wie der Versuch, aus Popeln und Ohrenschmalz ein leckeres Plätzchen zu backen.
Jo, die gefühlten 5 Stilwechsel in jedem bislang gehörten Song haben beinahe was selbstweckhaftes, getreu dem Motto "weil ich's kann". Andererseits, sie kann's halt wirkich. Jeder Stinkefinger in Richtung Popstereotype ist zu begrüßen...
Oh shit, no! Oh, oh! Watafuk? I have no time.
https://www.youtube.com/watch?v=oMh6LoRl9fQ
Wie eine KI auf Speed.
So also würde sich Billie Eilish anhören, wenn sie Metal spielen würde... Interessant