laut.de-Kritik
Exzessive Zeitkritik der Rave-Rock-Veteranen.
Review von Alexander Kroll"Ready To Go Home"? Kaum hat das zwölfte Album der schottischen Rave-Rock-Veteranen Primal Scream begonnen, singt ein Gospelchor voller Inbrunst davon, nach Hause zu gehen. Und damit meint er nicht bloß einen Rückzug ins heimische Wohnzimmer, sondern gleich eine Rückkehr in die himmlische Heimat.
Mehrere Schicksalsschläge hatten Bobby Gillespie und seine Band in letzter Zeit erschüttert. Bobbys Vater, der auf dem Cover zu sehen ist, starb vor anderthalb Jahren, nur wenige Monate davor erlag der erst 55-jährige Keyboarder Martin Duffy den Folgen einer Kopfverletzung. Trotzdem hat der Opener "Ready To Go Home" nichts mit Resignation zu tun, sondern setzt als Memento-Mori-Zeichen viel Energie frei. Schon nach dreißig Sekunden mündet das A-cappella-Intro in einen spacigen Funk-Soul-Loop, der die seit 1982 aktiven Genre-Jongleure markant auf den Weg bringt, sich weiter musikalisch auszutoben und weltlichen Problemen die Stirn zu bieten.
"Come Ahead" lautet der kämpferische Leitspruch, der aus dem Glasgower Dialekt stammt. "Wenn dir jemand droht, dich zu bekämpfen, sagst du: 'Come Ahead' – 'Mach schon!'", erzählt Gillespie, "das erinnert an den unbeugsamen Geist der Glasgower, und das Album selbst teilt diese aggressive Haltung und Zuversicht". Zusammen mit dem irischen Musiker und DJ David Holmes, der Steven Soderberghs "Ocean’s"-Trilogie vertonte und "Who Built the Moon?" von Noel Gallagher's High Flying Birds produzierte, liefern Primal Scream ein ausschweifendes Album, das Konflikte und Krisen tanzbar macht.
"Love Insurrection" lenkt mahnend den Blick auf verlorene Wahrheiten und drohende Kriege, während es gleichzeitig, den 70s-Soul-Mantel des Albums weiter ausbreitet, der auch perfekt zu Tarantinos Blaxploitation-Hommage "Jackie Brown" passen würde. Probleme klingen plötzlich smooth. Auch auf ganz persönlicher Ebene, wenn "Heal Yourself" mit Synth-Wolken und feierlichen Backing-Vocals eine Leidensgeschichte in eine Love-Story verwandelt.
Das Gegenüber von politischem und persönlichem Mahnen wiederholt sich beim Songpaar "Innocent Money" und "Melancholy Man". Erst klagt der 63-jährige Sozialistensohn mit flirrenden Violinen die kapitalistische Ausbeutung an, dann appelliert er daran, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen, während am Horizont ein Saxophon und eine E-Gitarre eine weite, hoffnungsvolle Klanglandschaft malen. Manchmal neigen die fast durchweg mehr als fünf Minuten langen Songs dazu, Muster und Botschaften auszubuchstabieren. Entsprechend verfehlen sie öfter den Moment, rechtzeitig aufzuhören.
Doch je länger das Album dauert, umso mehr spielt sich das Großformat ein. "Circus Of Life" dreht sich in einen Soundrausch, durch den Gillespie wie Beck auf "Midnite Vultures" spaziert. Mit Softrock-Schwung präsentiert "False Flags" ein achtminütiges Antikriegsmelodrama. Über das brutale Gegenwartsbild ertrinkender Flüchtlinge zeichnet "Deep Dark Waters" eine intensive Synth-Dystopie. Und die neunminütige, vom Gospelchor angetriebene Classic-Rock-Variation "Settlers Blues" bedient sich des ganz großen Maßstabs der Kolonialgeschichte.
Bei aller monumentalen Ausprägung liefert "Come Ahead" seinen besten Song mit dem knackigen "The Centre Cannot Hold". All die Soundvielfalt und Zeitkritik bündelt sich hier in nur drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden zu einem unwiderstehlich vitalen Groove. Ganz nah an der Essenz, nah am primal scream.
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