laut.de-Kritik
Da sind sie wieder, die hymnischen Refrains.
Review von Jasmin LützDa ist es also, das erste Pulp-Studioalbum seit 24 Jahren. Bereits letztes Jahr tourte die englische Pop-Band wieder vereint und begeisterte ihre Fans etwa auf dem Primavera in Porto. Textsicher begleitete das Publikum den Auftritt, Sänger Jarvis Cocker überzeugte mit Charme und Style und fand herzliche Worte an den mit 56 Jahren viel zu früh verstorbenen Pulp-Bassisten Steve Mackey, dem nun das offiziell achte Studioalbum gewidmet ist.
"More" ist das harmonische Ergebnis von Menschen, die sich schon sehr lange kennen und miteinander Musik machen. Es wurde diesmal auch nicht viel Zeit im Studio verschwendet. Die Songs waren bereits geschrieben, was sicher auch ein Grund für Keyboarderin Candida Doyle, Schlagzeuger Nick Banks und Gitarrist Mark Webber gewesen ist, sich auf eine neue Platte einzulassen. Mit Produzent James Ford (Arctic Monkeys, Depeche Mode) wurden die Live-Sessions in drei Wochen aufgenommen.
Das Ergebnis sind wunderbare Midtempo-Songs mit der unverkennbaren Stimme Cockers, Streicher-Arrangements und der großartigen ersten Singleauskopplung "Spike Island", die bereits zu einer neuen Kreisch!-Euphorie führte, und das nicht nur innerhalb der ollen Britpop-Fanzirkel. Es ist eine wunderbare Hymne mit Slide-Gitarre, Geigen und Synthie-Sounds, die sich ungeniert an Hits wie "Disco 2000" anhängt und das Comeback mit nostalgischen Gedanken begleitet. Auf Spike Island, einer Insel zwischen Manchester und Liverpool, fand 1990 ein legendäres Konzert der Stone Roses statt. Ein historisches Ereignis in der britischen Musikgeschichte.
Jarvis Cocker ist nicht Jesus, auch wenn er die gleichen Initialen hat. Vielleicht war er schon als Teenager in Sheffield etwas größenwahnsinnig, weil er schon mit 15 wusste, wohin seine musikalische Reise gehen soll (wie er in der unterhaltsamen Biografie "Good Pop, Bad Pop" berichtet). Aus der Arbeiterklasse entsprungen und im Art-Rock als Stimme der "Common People" kleben geblieben.
Man ist mit seinen Liedern erwachsen geworden und hat diese teils schrägen, lustigen oder tieftraurigen Beobachtungen vermisst. "More" erinnert nun daran, dass man schon lange nicht mehr 18 ist, aber das innere Kind in uns allen schlummert. Ein Album über die Vergänglichkeit. "It's so so hard to act just like a grown up / and it's so so hard and we're hoping that we don't get shown up." Der Song "Grown Ups" ist das längste Stück auf dem Album und brauchte 30 Jahre, um veröffentlicht zu werden.
Jarvis und das Älterwerden: Schon als Kind hatte er Angst vor dem Sterben. Sein Großvater war Bestatter. Mit 33 Jahren schrieb er "Help The Aged" vom hervorragenden Album "This Is Hardcore". Er wäre am liebsten immer Kind geblieben. Erwachsenwerden ist doch sinnlos, fand er zumindest damals. Das typische Peter-Pan-Syndrom. Musikalisch ist "Grown Ups" eine erfrischende Melodie mit jeder Menge Text, teilweise gesprochen und gefüllt mit Erinnerungen aus vergangenen Träumen und dem Spruch auf dem Kissen im Haus seiner Mutter: "Life's too short to drink bad wine."
Die ruhigen Feel-Good-Momente dürfen auf einem Pulp-Album nicht fehlen. In "Farmers Market" erzählt er über die Begegnung und Verbindung zu seiner Frau. Die rührende Ballade "The Hymn Of The North" ist ein emotionaler Einblick in den Gemütszustand eines Vaters. Jarvis singt hier über seinen Sohn und die Vorstellung, dass er bald das Haus verlassen wird. Die Liebe zu ihm und seiner Heimat Nordengland wird niemals vergehen. Leicht pathetisch, aber durchaus mitreißend: "You're wiser than I'll ever be / You're beautiful, smart, so funny / You fill my heart, you fill my dreams / And my only hope is you succeed."
Auch "Background Noise" überzeugt und lebt von Jarvis' Stimmeinsatz. Der Sprechgesang baut sich zu hymnischen Refrains auf. Dazu ein Midtempo-Synthie-Sound mit jauchzenden Streichern und fertig ist die charakteristische Pulp-Hymne. Experimentell und klassisch modern klingt "My Sex". "Ich habe keine Agenda / Ich habe nicht einmal ein Geschlecht" ist nur ein kurzer Textauszug aus dem Song mit einem Chor-Arrangements am Ende, das beim nächsten Gallery Weekend bei vielen Kunstliebhabern Bewunderung auslösen dürfte. Jarvis wandelt sowieso schon immer auf einer arty Wolke und experimentiert gerne mit Sound, Stimme und Sprache.
Zum Hit "Got To Have Love" kann man noch mal seine Northern-Soul-Tanzschritte ausprobieren und die Diskokugel auspacken. Jarvis liebt es zu tanzen, was seine Live-Auftritte belegen. Mit der Liebe hatte er allerdings eher Probleme: "Liebe ist ein Wort, das ich nicht sagen konnte, bis ich auf die 40 zuging". Musikalisch setzen Pulp das aber immer ganz gut um. Die Harmonie aus Chorgesang und melancholischen Monologen gelingt auch final mit "Sunset" und damit beenden Pulp ihr absolut gelungenes Album.
Die späten Comebacks beglücken uns derzeit, sei es The Cure, Stereolab oder natürlich Blur. Pulp reihen sich hier schön ein. Ob Robbie Williams dies mit seinem Album "Britpop" auch gelingt, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall ist der englische Pop zurück und und das ist auch gut so.
8 Kommentare mit einer Antwort
Sehr schönes Sommeralbum geworden.
Hätte nicht mehr mit denen gerechnet.
Dieser Kommentar wurde vor 12 Tagen durch den Autor entfernt.
Sehe ich ähnlich, würde aber tatsächlich 5/5 geben, da es quasi keinen einzigen schlechten Song gibt.
Für den Brit Pop ein neues Meisterwerk und wenn ich Pulp mit der kommerziellen Reunion-Bruderschaft namens Gallagher vergleiche, haben sie im Gegensatz zu Oasis einen fantastischen Output gegeben. Und das schreibe ich als jemand, der immer wieder gerne auch Oasis hört…
Ist wirklich rundum wundervoll, stimme zu. Um n Klischee auszupacken: Wer nie etwas mit Pulp anfangen konnte, wird das auch hier nicht können. Die Person ist mMn. allerdings auch ne arme Sau. Jarvis Cocker bleibt einer der wenigen, die sich an großen Themen wie Sex, Liebe oder Vergänglichkeit garantiert nie die Finger verbrennen oder peinlich werden.
Das gibt mir ganz wunderbare Vibes, wahrscheinlich sein bestes Album seit "Push the Sky Away"... oh, wait.
Sehr gutes Album! Nicht ganz "Different Class" (braucht ein wenig länger zum Zünden). Aber sicher ein Grower. Initial 4,5/5.
Die Monty-Python-Referenz in Farmers Market ("Just a fleshwound") ist großartig.
Gutes Album geworden; ich scheitere leider bei jedem Album an den Spitzensongs, weil ich einfach nach dem grandiosen Spike Island weitere solche Bolzen erwarte. Das war auch schon bei This is Hardcore so..