laut.de-Kritik

Als wären sie nie weg gewesen.

Review von

Ein Kumpel fragte mich damals: Blur oder Oasis? Ich antwortete ohne zu zögern: Blur. Wir sind immer noch gut befreundet. Damon Albarn und Graham Coxon kennen sich seit ihrer Kindheit. Über vierzig Jahre später stehen sie immer noch gemeinsam auf der Bühne. Sie haben sich zwischendurch ein paar Mal aus den Augen verloren, harmonieren musikalisch aber immer noch perfekt. Britpop verbindet und wie oft lag man sich schon mit Hymnen wie "There's No Other Way", "Girls & Boys" oder "Beetlebum" in den Armen. Nun sind Blur, die ursprünglich mal Seymour hießen, mit "The Ballad Of Darren" und zehn neuen Songs zurück und sorgten bei ihren Konzerten für eine erneute Blurmania.

Die Nachricht eines neuen Studioalbums verbreitete sich sehr schnell in den sozialen Netzwerken. Kreisch! Schon "The Narcissist" beamte einen sofort wieder in die 1990er zurück, jenes Jahrzehnt, dass auch der Journalist Jens Balzer gerade noch in seinem Buch "No Limit" popkulturell durchforstete. Damons Stimme klingt sofort vertraut und auch Grahams Gitarren verbindet die altbewährte Songstruktur. Gemeinsam mit der Rhythmusfraktion um Drummer Dave Rowntree und Bassist Alex James steigert sich die Melodie in einen hymnischen Refrain. Es geht um die Suche nach dem Image, um die Sucht nach dem eigenen Ich, um Selbstreflexion: "I heard no echo (no echo) / there was distortion everywhere (everywhere) / I found my ego (my ego) ... My heart, it quickened (it quickened) / I could not tear myself away (myself away) / Became addiction (addiction) / If you see darkness, look away (look away)."

Im Mittelpunkt steht das Miteinander. Die einzelnen Mitglieder brauchten über die Jahre immer wieder Pausen voneinander. Konflikte und Unstimmigkeiten gibt es schließlich in jeder guten Beziehung, zum großen Streit oder zur Trennung von Blur kam es nie. Alex kümmerte sich um seine Farm und leckeren selbstgemachten Käse, Dave kandidierte in seinem Wahlkreis für die Labour-Partei und brachte Anfang des Jahres sein Solodebüt heraus. Graham und Damon machten weiterhin eigene Musik. Vor allem Damon kreierte pausenlos neue Songs oder Projekte. Mit den Gorillaz feiert er große Erfolge. Zwischendurch gab es immer wieder kleinere Blur-Reunions in Form von Live-Konzerten. Mehrere Anläufe für ein neues Album kamen nie richtig in Gang. Erst 2015 gelang die überraschende Wiedervereinigung mit dem achten Album "The Magic Whip". Songs, die Damon eigentlich nie veröffentlichen wollte, aber Graham nutzte die bereits vorhandenen Strukturen und vervollständigte die Stücke. Danach bat er Damon, die Texte zu schreiben.

"The Ballad Of Darren" ist das Beste, das 2023 passieren konnte. Klangen die Songs auf "The Magic Whip" teilweise experimentell und zurückhaltender ("Thought I Was A Spaceman"), geben sie uns jetzt wieder vertraute Melodien. Als wären sie nie weg gewesen. "I fucked up", lautet die Begrüßung in "St. Charles Square", und damit spricht Damon einem sofort aus dem Herzen. Dieser Song wurde bereits auf einigen Festivals ausprobiert. Was soll man sagen, es funktioniert: "Tesco disco / The room is shrinking fast around me / It grabbed me by the ankle and pulled me under / Loneliness, I've been here before / 'Cause every generation has its gilded posers."

Grahams Gitarre explodiert förmlich in seinen Händen und er scheint alle Effektgeräte auf einmal einsetzen zu wollen. Ein Riff reicht halt manchmal nicht aus. "St. Charles Square" ist ein Ohrwurm, der bereits in den 1990ern hätte geschrieben werden können, doch alle Songs des Albums sind 2022 entstanden, als Damon mit den Gorillaz auf Tour war. Ins Studio ging es dann gemeinsam für ein paar Monate Anfang 2023. Nach sechs Wochen waren Darrens Balladen fertig.

Wer ist eigentlich dieser Darren? Das könnte im Grunde genommen jeder sein, aber sehr wahrscheinlich handelt es sich um den Durchschnitts-Briten, der schon immer in ihren Songs vorkam und lässig auf die Schippe genommen wurde. Damon bleibt der Meister des Songwritings. Er liefert verletzliche Texte, die alle Generationen ansprechen: "There are strings attached to all of us / There's nothing in the end only dust / So turn the music up / I'm hitting the hard stuff." ("Russian Strings") Allgemein fällt das Album melancholischer aus, ein tiefer Seufzer begleitet jeden Song. "The Everglades" läuft schwermütig ins Gehör, während "Barbaric" euphorisch-lebendig wirkt. "Goodbye Albert" ist nach Grahams Worten eines seiner Album-Favoriten, vielleicht weil seine Gitarre hier wie so oft wunderbar die Atmosphäre einfängt.

Lange klang die Band nicht mehr so einheitlich, kraft- und stilvoll. Natürlich hätte der eingefleischte Fan gerne mehr von diesen Hits wie "St. Charles Square" gehört, aber auch bei den Balladen bekommt man wässrige Augen. Und die Ruhe steht nun einmal im Fokus. Das beginnt schon mit "The Ballad". Herzzerreißende Texte konnte Albarn schon immer schreiben. Die emotionale Ebene erreicht er immer wieder, am Klavier oder an der Akustikgitarre, wie damals bei "No Distance Left To Run", einem der intensivsten Trennungssongs. Mit dem Album "13" löste sich Albarn nicht nur aus seiner langjährigen Beziehung mit Justine Frischmann (Elastica), sondern kehrte auch dem Britpop den Rücken zu und formte einen brachialen Meilenstein aus experimentellem und psychedelischem 70er-Rock.

Zwei Abende spielten Blur im ausverkauften Londoner Wembley Stadion (an einem Tag holen sie sich auch Sleaford Mods ins Vorprogramm, Damon ist großer Fan). Hochemotional und so überwältigend, dass nicht nur die Zuschauer in Tränen ausbrechen, sondern auch Damon kurz ergriffen zusammenklappt. Diese Innigkeit spürt man auch auf dem neuen Album. Die frühe Blur-Euphorie, melancholischer und reflektierender umgesetzt. "The Ballad Of Darren" gibt die Antwort auf den Brexit, die Trennung von Europa und die damit einhergehenden Folgen für die britische Bevölkerung. Aber die Songs stehen auch für die Hoffnung, dass sich die Lage noch einmal wenden kann. Wie das Aufwachen nach einem furchtbaren Alptraum.

Passend dazu die Auswahl des Albumcovers von Martin Parr. Ein englischer Fotograf mit einem Blickwinkel für das alltägliche Leben. Das Cover entstand in Glasgow und zeigt die Symbiose zwischen Zufriedenheit und Schutz (der Schwimmer im Pool) und der donnernden Gefahr von oben (grauer Himmel). Wenn mich heute noch mal jemand fragen würde: Blur oder Oasis? Für immer Blur!

Trackliste

  1. 1. The Ballad
  2. 2. St. Charles Square
  3. 3. Barbaric
  4. 4. Russian Strings
  5. 5. The Everglades
  6. 6. The Narcissist
  7. 7. Goodbye Albert
  8. 8. Far Away island
  9. 9. Avalon
  10. 10. The Heights

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10 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Klingt in weiten Teilen wie ein ödes Bowie-Album

  • Vor einem Jahr

    Nach den letzten beiden Alben ist dieses Album tatsächlich wieder deutlich kreativer geworden.
    Tolle Melodien und Atmosphären dominieren dieses Album über weite Strecken.
    Insgesamt ist dieses Album ruhig und mit vielen Balladen versehen. Damons Stimme klingt angenehm und Grahams zaubert tolle Klangwelten in die Songs.
    Highlights für mich sind The Ballad, Barbaric und The Narcissist. Die letzten beiden genannten Songs sind auch echt radiotauglich.

  • Vor einem Jahr

    Mir ist grade aufgefallen, dass das Album im Aufbau der "In Rainbows" Platte von Radiohead ähnelt. Geht das nur mir so? 10 Songs; Track 2 der einzige mit verhältnismäßig härteren Gitarrenriffs; der Rest eher zurückhaltend und auf Melodien und Ästhetik fokussiert... Keine Ahnnung, nur so n Gedanke.
    Generell muss ich sagen, dass Blur hier sehr gekonnt ganz genau nicht das gemacht haben, was man vielleicht von ihnen erwartet hätte. Fühlt sich zwar ein bisschen wie das Zufallsprodukt von ner Supergroup an, die in den letzten 20 Jahren irgendwie alle eher ihr eigenes Ding gemacht haben, aber vor genau diesem Hintergrund nochmal beeindruckender, wie sehr das Album auf dem Boden der Tatsachen bleibt.