laut.de-Kritik
TikTok und Instagram von früh bis spät: Wo soll das nur hinführen?
Review von Philipp KauseJamaika besitzt heute kein einziges Presswerk mehr. Somit bleibt "Black Man Time" ein rein digitaler Release, obwohl Richie Spice zu jenen gehört, die meist ganz gut verkauften. Mehrere seiner Alben erreichten die Top Ten der Billboard-Reggae-Charts. Nun feiert Edelkehle Richell seinen 52. Geburtstag mit 14 Ständchen.
Er widmet diese aber nicht sich selbst, sondern u.a. allen Kindern, die noch im Park spielen und ein Buch lesen, statt im Internet abzuhängen. Dann diesem Planeten oder auch kriminellen Jugendlichen in Kingston und speziell Johnny aus dem alten "Harder They Come"-Soundtrack. Am Ende wünscht uns Richie sogar noch ein "Happy New Year".
Auf dem Weg dort hin begegnen uns drei einigermaßen bekannte Melodien: Der Jamaikaner covert Lionel Richies Tropical-Soulpop "All Night Long". Er macht es stimmungsvoll und relativ nah am Original, aber souverän und mit Spaß an dem eigenwilligen Stück. Vor allem fällt die frappierende Ähnlichkeit der Art zu singen auf. Durchaus ein Kompliment, denn Lionel holte sich dafür den Grammy für den besten männlichen Gesang ab.
"Johnny Too Bad" ist ebenfalls ein Cover, dem Original der Slickers auf den Fersen, die vor gut 50 Jahren ihren Durchbruch erlebten. "Tea Bread" zieht einen Classic aus Richies eigenem Katalog als Referenz heran: "Earth A Run Red", nichts weniger als einer der 100 besten Rasta-Tunes aller Zeiten - meiner Meinung nach. Richie Spice spielt ihn bis heute regelmäßig live. Das ursprüngliche Lied erschien von 1998 bis 2005 einige Male auf verschiedenen Labels, bis es wirklich gehört wurde, toll war dabei immer mehr der Song an sich, weniger die Aufnahmequalität.
Der Track ist ein vielschichtiges Kunstwerk aus Metaphern und anderen literarischen Stilmitteln. Die Zeile mit dem 'Teebrot', das in Jamaika als Ex-Kolonie Englands unserem Weihnachtsstollen entspricht, ist eigentlich eine böse und vernichtende. Auf genau diese zoomt der Sänger für ein brillantes Remake auf der alten Melodie mit völlig neuem Musik-Arrangement. Die jetzige Version stellt eine intensive Acoustic-Fassung dar, die die Nummer entstaubt, deren Manko immer die fragwürdige Klangqualität war. Umso schöner, sie jetzt mal in High Definition zu hören.
Was Spice damals sagen will: Da gibt es Zehnjährige im abgewracktesten Stadtteil, in dem Gangs Drogen und Knarren dealen. Und diese Kinder wollen große Lebenserfahrung und Reichtum ausstrahlen, "sehen aus, als besäßen sie Teebrot". Dabei leiden sie eigentlich an Hunger, stellen sich lediglich tough dar und kriegen andauernd mit, wie ihre Altersgenossen wegsterben. Spice packt solche Themen gerne an.
Der Jugend von heute, "internet boys, internet girls, living in a digital world, we call it the modern world" kenne zudem keine Zwischenmenschlichkeit mehr. Spice singt laut aufjaulend über eine schwermütige Akkordfolge ("Cyber World"): "Take up your tablet, bo-o-o-oy / screen in the morning / screen in the evening / from night to day – oh-ow (...) the youths have little to play (…) every day they do so 'snap-snap' / before their Instagram a Snapchat / they find on Facebook then a TikTok: Is this where the world has gone today? - Wonderin' what price we have to pay!"
Jenseits der Dub-Effekte von "Cyber World" watet "These Are The Days ft. Capleton" durch eine organische, tief dröhnend transponierte Keyboard-Percussion-Bass-Konstruktion. Obwohl ich Capleton ungefähr so gerne mag wie Helene Fischer und Nino de Angelo zusammen, muss ich anerkennen: Richie Spice bringt es tatsächlich fertig, dass mir ein Song mit diesem gefällt. Dennoch schäme ich mich manchmal für meine Szene, dass reihenweise Labels, Artists, Fans und Festivals Capleton so hofieren – jetzt also auch noch Richie Spice, der den Song bereits vor vier Jahren erfolglos veröffentlichte. Aber zugegeben, die Nummer hat echt Charisma.
Im Gegensatz zu den Botschaften Capletons, die mit Verbrennen, Erschlagen und dem jüngsten Gericht drohen, gibt sich Richie Spice verzückt dem liebsten Mädchen der Welt hin ("Real Love"). Er probiert sich, fasziniert vom Aroma seiner selbst angebauten Marihuana-Pflanze ("High Grade"), in neuen Dance-Rootspop-Outfits aus. Und das moderne Sound-Gewand steht ihm gut. Klingt fast ein bisschen so, als würde jemand permanent mit Wasserpistolen auf Luftmatratzen spritzen.
Auch "Love Can Make It Happen" und "Mother Earth" besitzen die neuen Bubble-Beats, während "Young Juvenile ft. Louie Culture" und "Searching For ft. Charly Black" ein Mittelding zwischen gewöhnlichen Roots-Riddims und Klick-Klacker-Pop fahren. "Mother Earth" drängt sich mit einigermaßen genialen und catchy Harmonien in den Vordergrund.
Der Ü-50-Artist begibt sich auf den Weg von Jimmy Cliff und zeigt sich offen gegenüber benachbarten Musikrichtungen von Dance über Pop bis R'n'B. Okay, bei Cliff warens noch ungefähr zehn weitere Genres. Gerade der Schlusstrack "Happy New Year" ruft noch einmal in Erinnerung, dass das Album Wumms und einen auf blitzeblank polierten Sound besitzt. Rasta-Pop at its second best - "Chronology" war besser, aber "Black Man Time" lullt weniger ein und kann ebenfalls viel.
1 Kommentar mit 2 Antworten
Hab nur quergelesen und peile es vllt nicht. Aber: Entschtaubt? Oder ist das wieder ne vereinfachende Reform für dumme Kinder, die ich nicht mitbekommen hab?
Ich aß gestern übrigens Borschtsch
jesses. danke, luchsauge, und guten appetit.