laut.de-Kritik
Durchwachsene Hommage mit schlimmem Ausklang.
Review von Ulf Kubanke"Du sagst, Du willst die Welt nicht ändern. Dann tun's eben andere für dich. (...) Wann – wenn nicht jetzt? Wo – wenn nicht hier? Wie – wenn ohne Liebe? Wer – wenn nicht wir?" Der Autor dieser Zeilen verließ das Gebäude bereits vor 20 Jahren. Sicherlich Grund genug, Rio Reisers großes Songwriting erneut ins kollektive Gedächtnis zu rufen. "Alles Und Noch Viel Mehr" bietet viel höchstpersönlichen Rio plus ein paar Cover zeitgenössischer Musiker. Dennoch ist die Veröffentlichung kein reiner Quell der Freude und als Hommage nur bedingt geeignet.
Die Songauswahl ist untadelig. Ihre Spannweite reicht von obligatorischen Hits wie "König Von Deutschland" bis zur sensiblen Seite des ewigen Romantikers: "Zauberland" etwa bleibt einer der besten Liebeskummersongs aller Zeiten. Dazwischen ein paar Scherben-Tupfer ("Lass Uns Ein Wunder Sein"). Rio geht in allen Facetten auf wie eine Blüte. Mal ist er der lebenskluge Kumpel von nebenan, dann wieder beißender Sarkast oder liebestrunkener Melancholiker. Jedes einzelne Lied durchtanzt oder durchleidet diese unverwechelbare Stimme voller Hingabe. Die emotionale Ausdruckskraft Reisers ist schlichtweg ehrfurchtgebietend.
Leider hält die teils breiige, teils sterile 80er Produktion (u.a. von Annette Humpe, Udo Arndt oder George Glück) nicht, was Rios zeitloser Vortrag verspricht. Im ehrenwerten Bestreben, Reiser kommerziellen Erfolg zu verschaffen, schoss man seinerzeit weit übers ästhetische Ziel hinaus. Negativer Höhepunkt: "Manager"! Aus Rios (selbst)ironischer Humoreske machte man eine unzumutbare Karnevalsnummer. So ein Abbild hat Reiser nicht verdient. Auch Neulingen vermittelt es einen unnötig schiefen Eindruck seines Schaffens.
Manchen Song hätte man besser aus Rios authentischen Live-Auftritten ausgewählt. Vor allem Reisers grandiose Solo-Piano-Performances ("Am Piano 1-3") bieten sich an. Vom Protest-/Volkslied bis zum The Clash-Cover und chansonesken Eigeninterpretationen reicht sein beeindruckendes Repertoire. Diese Vielseitigkeit kommt auf dem vorliegenden Sampler deutlich zu kurz.
Immerhin bringt man sein 1989er Stück "Über Nacht" aus dem Schimanski-Tatort "Der Pott". Dafür wartet die Fan-Gemeinde immer noch vergeblich auf die nie veröffentlichte Akustikversion von "Träume" aus dem echten Rio-Tatort "Im Herzen Eiszeit" .
Trösten darf man sich hier dennoch mit zwei Anspieltipps für die Ewigkeit. Das schunkelnde Seemannsgarn "Übers Meer" sollte weder Seebär noch Landratte verpassen. "Sei nicht traurig, mein Kind. So viele Jahre und so viele Sterne ist es wohl her. Seit wir draußen sind auf dem Meer."
Einsamer Höhepunkt und womöglich Rios bestes Lied überhaupt ist das intensive "Träume"; hier in der Rockversion. Schattenhafte Postpunkgitarren und ein dramatisches Keyboard treiben die finstere Stimmung voran. Rio ist halb Schamane, halb verwundetes Tier. Hinzu kommt einer der besten deutschen Songtexte aller Zeiten: "Träume verwehen, wenn sie nicht wissen, wo sie schlafen sollen. Bevor der Tag kommt, ziehen sie mit dem Wind davon. Die Zeit vergeht und zuviel bleibt im Straßenstaub. Wird uns fremd, wie ein Bild von daheim. Alles längst verschwunden, alles überwunden. Und doch war da viel mehr als ein Spiel."
Nach der Werkschau folgt der Block mit Neubearbeitungen und Interpretationen. Das hier gebotene Bild ist ähnlich zwiespältig. Die als Albumteaser dezent modernisierte Version von "Wann?" macht durchaus ein wenig Laune. Das geht als Spielerei klar, auch wenn die Intensität des Originals fehlt.
Weit ratloser macht die Auswahl und Deutung aktuell deutschsprachiger Künstler. Statt verdiente Nachkommen ins Boot zu holen, drückt man dem Poeten Reiser ausgerechnet die üblichen Fließbandzombies popindustriellen Mittelmaßes aufs Auge.
Namika müht sich redlich durch eine moderne Blackmusicversion von "Zauberland", scheitert aber an der deutlichen Begrenztheit ihres Ausdrucks. Sie leidet gesanglich nicht wie Rio und bleibt zu sehr an der emotionalen Oberfläche. Gregor Meyle verpasst dem "König Von Deutschland" einen betulichen Country-Fummel Marke Truck Stop. Annett Louisan tötet "Halt Dich An Deiner Liebe Fest" mit gewohnt typischem Overacting der ewigen "Ich Will Doch Nur Spielen"-Lolita.
Johannes Oerdings Idee von "Für Immer Und Dich" überzeugt gesanglich mit eindringlicher Leidenschaft und echtem Ringen um die Liebe. Fettes Brot und Söhne Mannheims liefern hernach immerhin solides Handwerk zwischen Groove und Stampfer. Doch es wird noch richtig schlimm.
Der Schlusspunkt ist dann tatsächlich das reine Grauen: Nena degradiert den Klassiker "Schritt Für Schritt Ins Paradies" mit nölig schmachtendem Eso-Gesang. Das ebenso aufgesetzte wie unpassende Schweinerock-Arrangement begräbt dann alle Restwürde des schönen Liedes. So klingt das Album mit dem verzichtbaren Charme von Geisterbahn und Realsatire aus.
4 Kommentare mit 3 Antworten
Also Nena ist schuld! Ok, die Gute geht mir schon seit 30 Jahren auf den Senkel mit ihren 99 Luftnummern mit ihrer Band (welcher Band?), aber das sie gleich einem Album 1-2 Points kostet mit einem Song geht dann doch etwas weit? Aber kann ja sein.....erstmal rein hören........
Wie billig ist das denn? Die Hälfte der Cover-Versionen war doch schon hier drauf: http://www.laut.de/Various-Artists/Alben/R…
Das wäre dann schon ne "1/5 ungehört" wert gewesen...natürlich nur als Denkzettel für Sony
Die "Blackbox" ist übrigens für Ende Oktober angekündigt.
http://konsum.buschfunk.com/neuerscheinung…
Ich erwähn's nur, damit ein Klick auf diese Veröffentlichung wenigstens ein bißchen Mehrwert bringt.
Gruß
Skywise
"Die erste CD der Box enthält RIO REISERS allererste Songs – mit 14-15 Jahren"
Das klingt aber nach Leichen fledderei der übelsten Sorte.
@sickboy:
Wie man's nimmt. Lies mal einen Absatz weiter, das relativiert manches wieder:
"Bereits ab seinem 13. Lebensjahr war RIO REISER Haus- und Hofkomponist des Hoffmanns Comic Teater, für das er schon 10 Theaterstücke vertont hatte, bevor er 1970 die legendäre Band TON STEINE SCHERBEN gründete – vieles davon wird erstmalig in dieser Box dokumentiert."
Ich vertraue in dieser Hinsicht dem Produzenten Lutz Kerschowski. Der hat bislang in Sachen Rio Reiser und Ton Steine Scherben eigentlich nie übelste Leichenfledderei betrieben, sondern immer darauf geachtet, daß auch die Qualität stimmt. Soll nicht heißen, daß einem da jedes Mal vor Begeisterung die Kinnlade runterfällt, aber ich bin davon überzeugt, daß Rio Reiser selbst mit Veröffentlichungen wie "Am Piano I", "Am Piano II" oder dem Seelenbinderhallen-Konzert sehr einverstanden gewesen wäre.
Gruß
Skywise
Ja, da kann ich beipflichten. Das TSS Gesamtwerk (wurde erst dieses Jahr wieder neu aufgelegt) ist ja auch sehr empfehlenswert.
Ein Beigeschmack des ausverkaufs bleibt da bei der schieren Anzahl an Titeln dennoch. Dazu noch eine Biografie und diese hier besprochene unsägliche bestof.
Auf der anderen Seite ist man dann wohl aber mit beiden gesamtboxen mit allen eingedeckt und braucht sich nie wieder was kaufen.
... fürs Fans nichts neues! (klar, Herr Reiser ist tot, aber man hätte ja wenigstens durch "Re-Mixe" oder aufarbeitung die Songs in einer anderen Weise vorstellen können, man hätte auch Band 3 des "Familienalbums" machen können, allerdings: es ist kein schlechtes Album, die lieblose Zusammenstellung macht ja die tollen Songs nicht schlecht! Die (neuen) 0815-Coversongs auf der Platte sorgen allerdings eher dafür, dass man zwar wieder verstärkt die Rio-Platten aus dem Schrank holt, sich diese Compilation allerdings nicht kaufen wird!