laut.de-Kritik

Zugleich Menschenfänger und Misanthrop.

Review von

Um einen Meilenstein, um wirklich tiefe Spuren in der Musikwelt zu hinterlassen, braucht es etwas bahnbrechend Neues, oder etwa nicht? Mit seinem Debüt "Hypersonic Missiles" tritt Sam Fender anno 2019 den Gegenbeweis an. Diese Platte strotzt unüberhörbar vor Referenzen zu Springsteen, The War On Drugs oder den Foals, um ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte zu nennen. Es ist, als bediene sich der junge Brite an einer Zeitkapsel. Klingt nach Kalkül? Geht aber darüber hinaus! Mit einer schicken Produktion und einem unschlagbaren Songwriting verpasst er dem Geist der Vergangenheit einen neuen Anstrich.

Natürlich spielt es eine Rolle, dass der attraktive Kerl an der Gitarre den authentischen Geruch der Straßen von Newcastle mitbringt und das gemeinsam mit seinem musikalischen Geschick so furchtbar bescheiden verpackt. Der folkige Akzent aus dem britischen Norden, Gitarrensounds zum Dahinschmelzen und ein Vorwärtsdrang, der Lebensgeister weckt. Wie sollte man dem Stand halten? So geschickt abgelenkt, fällt die versteckte Nostalgie für alte Helden der Musikgeschichte schon gar nicht weiter auf. So unbewusst, wie wir Menschen Retro-Produkte konsumieren, so lassen wir uns von Fenders magnetischem Charme und seiner Songwriter-Kunst in den Bann ziehen.

Den frischen Start aus einem alten Geist heraus zu entwickeln, beschreibt die große Stärke einer Platte, die beweist, wie zeitlos Musik das Bedürfnis nach Rhythmus und eingängiger Melodie stillen kann. Während sich andere lange mit computergenerierten Sounds oder wilden Social Media-Kampagnen aufhalten, beschränkt sich der Senkrechtstarter von der Insel auf ursprünglichste Zutaten: ein gutes Riff, ein treibender Beat und ein gewinnbringendes Faible für den alles öffnenden Chorus. Im Einsatz des Saxofons manifestiert sich endgültig die Verneigung vor dem Boss himself. Als fester Bestandteil seiner Band gehörte Clarence Clemons damals unverzichtbar zu Springsteens E-Street Band.

Zurück zur Gegenwart, in der Fender gleich mit dem Titeltrack einen ganzen Hype rechtfertigt. Mehr Anschubenergie lässt sich gar nicht entfachen, wie es die treibende Gitarre vorgibt! Die Lyrics pendeln so treffsicher zwischen Resignation und Rebellion, dass die Ohnmacht menschlichen Seins gnadenlos hervortritt: "I'm not smart enough to change a thing. I have no answers, only questions, don't you ask a thing?" Fehlt nur noch ein Mü, um der Absurdität unserer Existenz die Krone aufzusetzen. "All the silver tongued suits and cartoons that rule my world. Are saying it's a high time for hypersonic missiles." Der Song hat so viel Klasse und Hit-Potenzial zugleich, dass es weh tut.

Raus aus dem Zynismus, rein in die Leichtigkeit! Mit dieser Attitüde setzt "The Borders" den ersten Kontrapunkt und stürmt enthusiastisch auf die Tanzfläche. Gepaart mit genialen Gitarren-Füllern verhindert der unnachgiebige 80er-Beat jeden Anflug von Müdigkeit. Nach diesem furiosen Beginn kommt die kurze Verschnaufpause mit dem Titel "White Privilege" ganz gelegen.

Rein äußerlich nahezu auf Acapella mit Backing Vocals zurückgefahren, wird inhaltlich dafür messerscharf gegen das weiße Patriarchat ausgeteilt. "The patriarchy is real, the proof is here in my song. I'll sit and mansplain every detail of the things it does wrong." Pop-Rock der gesellschaftskritischen Sorte also? Stimmt genau und dennoch so unverfänglich vorgetragen, dass jedem selbst die Entscheidung überlassen bleibt, ob die Bewunderung für tieferliegende Textebenen oder das super eingängige Songwriting überwiegen.

Wie es klingt, wenn Inhalt und Form verschmelzen, führt "Dead Boys" vor. Wieder bestimmen Gitarre und Gesang ein minimalistisches Setting, doch diesmal hüllt sich die Grundstimmung in Schwermut. Sphärisch schwebend, aber dennoch zielstrebig verarbeitet Fender die Erinnerung an zu viele Suizide im Kosmos seiner einst kleinstädtischen Realität. Ein Beat setzt ein, Ähnlichkeiten zu den eingangs genannten Foals machen sich breit, und die Dramaturgie nimmt Fahrt auf. Nach und nach gesellen sich neue Sound-Elemente dazu, die Kulisse wächst und der Spannungsbogen nähert sich seinem Höhepunkt - dem sich stetig wiederholenden Schmerz. Die Gedanken kreisen um den Verlust und die Frage nach dem Warum. "We close our eyes, learn our pain. Nobody ever could explain. All the dead boys in our hometown."

Zaghaft befreit sich das anschließende "You're Not The Only One" von der Schwere. Genial, wie Fender kraftvoll in die Kopfstimme wechselt, um Solidarität mit allen verlorenen Seelen da draußen auszudrücken: "Darling, you're not the only one!" Die Lebenslust kehrt zurück, der Wunsch nach einer wilden Nacht wächst. Da kommt der Indie-Groove in "Play God" gerade recht. Eine Basslinie gibt Orientierung, ein anfeuerndes Gitarren-Picking und ein eingängiger Beat machen es möglich, zur Kritik an Allmachtsfantasien die Hüften zu schwingen.

Zwischen den Stimmungen geht es hin und her. Jeder Track glänzt mit neuen Facetten. Sei es der verwegene Grunge-Charakter von "That Sound" oder das launige "Saturday", das jeder niemals enden wollenden Arbeitswoche einen sehnsüchtigen Soundtrack verpasst: "And if the saturday don't come soon, I'm gonna lose my mind." Jeder dieser Tracks birgt Hitpotenzial, ohne dabei leicht berechenbar das immer gleiche Rezept anzurühren.

Auch deshalb lässt sich alles so wunderbar gut weghören. Neugierde und Vorfreude auf das nächste Abenteuer gehen währenddessen nie verloren. "Will We Talk" sticht im Rausch der guten Songs noch mal besonders heraus. So anmutig wie eine herzliche Umarmung trägt einen der Song problemlos durch jeden verregneten Sonntagmorgen. Ein bisschen Kitsch schwingt mit, aber den kann sich Fender nach vielen authentischen Einblicken in dunklere Lebensbereiche locker erlauben. Zumal sich selbst diese Geschichte nicht eindeutig zwischen One Night-Stand oder Romanze bewegt. Sie kommt nicht ohne Zweifel, ohne Ungewissheiten und holprigen Zwischentöne aus: "If you dance with me, darling, if you take me home. Will we talk in the morning?"

Von hier übernimmt die Melancholie des in sich zurückgezogenen Singersongwriters den Abschluss der Platte. Allein gelassen mit Gitarren-Noten steigert sich "Two People" in die zerfahrene Beziehung zweier Menschen in einem toxischen Stadium hinein, das weiche "Call Me Lover" ergattert endgültig einen Platz auf der Kuschelrock, ehe "Leave Fast" voller innerer Zerrissenheit an einem schnellen Abschied scheitert. Damit die Reise nicht mit dieser nachdenklichen Note endet, schlägt die Live-Version von "Use" nochmals den Bogen zu den kraftvollsten Momenten der Platte.

Noch einmal zeigt Fender, einzig über Piano, Gitarre und Gesang, welche Bandbreite er abdecken kann. Im heftigen Monolog kehrt er seine Seele nach außen, teilt aus gegen das Geschwätz derer, die ihre Schlüsse hinterrücks ziehen: "Emphatic, overdramatic pathetic stories. Are spun about me and my loose tongue " Die eigene Verletzlichkeit wird hier in Reinform vertont. So voller Inbrunst erhebt sich der Brite über persönliche Schwächen und verwandelt sie in sympathische Menschlichkeit.

Auch wenn "Hypersonic Missiles" in den letzten Zügen vom Menschenfänger zum Misanthropen mutiert, bleibt das Energielevel hoch. Eben weil der Wohlfühlfaktor nicht jede Phase des Albums beherrscht, erreicht Fenders Debüt Sphären jenseits der gängigen Pop/Rock-Industrie. Der authentische Ausdruck eines wahnsinnig talentierten Musikers steht hier spürbar im Vordergrund, nicht die Suche nach elf glatt geschliffenen Hits oder einer künstlich erzeugten Retro-Liebe für Bruce Springsteen und Co. Sam Fender gibt sich als Musiker und Mensch, nachweislich auch als Fan der amerikanischen Ikone. Dass ihm dabei auf natürliche Weise schillernde Perlen von Songs entweichen, lässt sich als Geschenk empfinden. Auf jeden Fall wirkt es und verheißt Großes.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Hypersonic Missiles
  2. 2. The Borders
  3. 3. White Privilege
  4. 4. Dead Boys
  5. 5. You're Not The Only One
  6. 6. Play God
  7. 7. That Sound
  8. 8. Saturday
  9. 9. Will We Talk?
  10. 10. Two People
  11. 11. Call Me Lover
  12. 12. Leave Fast
  13. 13. Use (Live From London 2018)

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Sam Fender

"Ich bin in einem Ort aufgewachsen, wo es viele Kinder von Familien ohne Job gab, die dann ebenfalls nicht gearbeitet haben. Es geht viel um Angst, wenn …

3 Kommentare mit einer Antwort