laut.de-Kritik

Das rauschhafte Meisterwerk vom Vorabend der Revolution.

Review von

Die schreienden Bäume und das Thema Meilensteine, ein durchaus weit verzweigtes Terrain. An der Schlüsselstelle ihrer Karriere sind es zwei Alben, in denen sich das Davor und das Danach spiegeln. "Sweet Oblivion" steht für letzteres, veröffentlicht im September 1992, via "Nearly Lost You", dem Soundtrack zur Grunge-Romanze "Singles" und nicht zuletzt den Verkaufszahlen sicherlich Stoff für diese Kolumne. Noch etwas reizvoller jedoch ist der Vorgänger, "Uncle Anesthesia", der die Screaming Trees im Aufbruch zeigt: In den Jahren zuvor über mehrere Platten warmgespielt, das Songwriting immer ein Stückchen schärfer gestellt, ist dies eine Momentaufnahme unmittelbar vor dem musikalischen Urknall. "Nevermind" ist noch nicht erschienen, Grunge wird vornehmlich von Mudhoney et al vertreten, H&M hat noch keine Flanellhemden im Sortiment, es ist die Ruhe vor dem Sturm, und gerade deswegen ist "Uncle Anesthesia" so reizvoll, so ungebrochen magisch – als Zeitdokument einer ohnehin zur Schräglage neigenden Band, kurz bevor die Metallbolzen aus den Fassungen fliegen und popkulturell kein Stein auf dem anderen bleibt.

Als Produzenten sind Terry Date und Chris Cornell ausgewiesen, tatsächlich war der Soundgarden-Sänger unter vorgehaltener Hand wohl auch deswegen dazu geholt worden, um den drogentechnisch oft abgelenkten Mark Lanegan ein wenig in der Spur zu halten. Aufgenommen in den London Bridge Studios zu Seattle hatte die Band sich über Wochen für die Recordings warmgespielt, über anderthalb Monate nehmen die Aufnahmen in Anspruch. Die Arbeit lohnt sich, das Ergebnis gerät schillernd, erweist sich als eine Art klangliches Vexierbild seiner Zeit.

Mit der SubPop-EP "Change Has Come" hatten die Trees zuvor bereits ein gerüttelt Maß an Fokus zugelegt und den zuvor zuweilen etwas ausgefransten Hippierock-Vibe durch muskulösere Attitüde ersetzt. Auf "Uncle Anesthesia" nimmt die Band nun ein Dutzend Evolutionsstufen auf einmal.

Das beginnt schon mit dem Opener "Beyond This Horizon". Gary Lee Connors Gitarre kommt wie flüssige Lava, Drummer Mark Pickerel, zum letzten Mal dabei, rührt die Snare, als würde er ein halbes Dutzend Sticks führen, Van Connors Bass hält den Laden zusammen – und Lanegan? Der mag in der Öffentlichkeit gern seine Abneigung gegenüber Vergleichen mit Jim Morrison bekunden, aber es führt nun mal kein Weg an der phonetischen – und hypnotisierenden – Verwandschaft vorbei.

Schon mit "Bed Of Roses", dem zweiten Song, ändern die vier ihre Richtung und bleiben doch auf Kurs. Mit "Where do you stand when it's all over ...?" holt Lanegan eine seiner wohl magischsten Zeilen aus dem Notizbuch, die Band tauscht metallisches Amalgam gegen gleichsam luftigen Singer/Songwriter-Touch, hier steckt alles drin von R.E.M. über Dylan bis zu Gun Club, und doch ist das Screaming Trees pur, dringlich, hochemotional, auf Rosen gebettete Melodien.

Der Titelsong im Anschluss scheint zurück zur "Buzz Factory" zu reisen. "Story Of Her Fate" ist wohl der beste Song, den Hüsker Dü nie geschrieben haben, "Caught Between" beginnt mit taumelnden On/Off-Akzenten, bis Lanegan die Zügel in die Hand nimmt und den Kurs bestimmt, später lässig den Gitarren folgt, bevor sich zur Mitte hin alles noch einmal verdichtet, gefühlt zwei bis drei Gitarrenspuren dazukommen und alles dickhosig aufplustern – ein betörender Midtempo-Groover, der am Ende wieder zurück in den Orkus zwirbelt.

Richtung zweite Albumhälfte gibt es kein Nachlassen, im Gegenteil. "Lay Head Your Down" dreht sich im Sonnenlicht als einer der wohl schönsten, versöhnlichsten, umarmendsten Songs im ganzen Katalog der Trees. Es scheint, als beantworte Lanegan hier die Frage aus dem Song mit dem Rosengemach: "When it all goes down ... you can lay your head down". Wer wollte da nicht das sorgenschwere Haupt ein wenig zur Ruhe kommen lassen, im Ohr die "Uh-la-lala"-Backing Vocals, dazu ein Flötensolo, um die Schuhe abzuwerfen und über taunasse Wiesen zu tanzen.

"Before We Rise" im Anschluss klingt wie aus dem Mausoleum gesungen, "Something About Today" bietet feinsten Psych-Rock mit dezenter Space-Kante. Im Anschluss der größte Hit, der nie einer war: "Alice Said" groovt als Epochen verbindendes Kleinod, aus der Ferne grüßt Woody Guthrie, es riecht nach frischem Kaffee, Diesel und Dr. Peppers.

"Time For Light" wechselt die Tempi binnen Sekunden und läuft so ein wenig unterm Radar als solides Grunge-Brett, vielleicht auch deswegen weil "Disappearing" im Anschluss noch einmal für einen echten Höhepunkt sorgt. Connors Intro-Riff grüßt aus dem 13. Stockwerk, Pickerel zählt mit der Kickdrum an – und dann diese wunderbare Trompete, wie sie mit Lanegan, in ungewohnten Stimmhöhen unterwegs, verschmilzt, das ist fast zu schön, um es auszuhalten. Passenderweise geht es mit den beiden Abschlussstücken noch einmal in gewohnte Gefilde, "Ocean Of Confusion" und das trefflich betitelte "Closer" sind dem Konventionellen zugeneigte Klassiker, gut austariert zwischen Seattle-Breitseite und Jingle-Jangle Marke Byrds.

"Bring us closer to the flame, bring us closer to the fire, this world can't take us any higher", Lanegans letzte Zeilen im letzten Song dieses Albums. Der Rest ist Andacht.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Beyond This Horizon
  2. 2. Bed Of Roses
  3. 3. Uncle Anesthesia
  4. 4. Story Of Her Fate
  5. 5. Caught Between
  6. 6. Lay Your Head Down
  7. 7. Before We Arise
  8. 8. Something About Today
  9. 9. Alice Said
  10. 10. Time For Light
  11. 11. Disappearing
  12. 12. Ocean Of Confusion
  13. 13. Closer

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