laut.de-Kritik
Dieses Album ist eine körperliche Erfahrung.
Review von Moritz FehrleDieses Album ist eine körperliche Erfahrung. Ein langer Drumroll kündigt sie an, dann bricht "Stand!" durch die Türe und reißt die Zuhörer:innen auf die Füße. Ganz gleich ob frühmorgens im Bett oder spätabends in der Bahn: undenkbar, hier die Füße still zu halten. Auf dem Papier eigentlich ein Gospelsong, wird Sly Stone von seiner Band durch die Strophen getrieben, bis sich der Titelsong im Refrain in einer geradezu absurden Ekstase entlädt.
Gerade einmal zwei Minuten dauert dieser Wahnsinn, und man ist als Zuhörer:in bereits komplett außer Atem. Aber während man sich ein letztes Mal für Jerry Martinis kreischendes Saxophon wappnet, knallt unvermittelt ein Break rein und hämmert die Botschaft des Songs über einen synkopiert nach vorne preschenden Funkrhythmus noch einmal fest: Kopf hoch, Brust raus, "You Can Make It If You Try".
Gerade mit Blick auf die weitere Bandgeschichte ließe sich süffisant anmerken: das Koks weht einem aus jeder Note entgegen. Aber eigentlich fehlt für derlei Spott der Atem, will man sich nach dem furiosen Beginn doch einfach nur den Schweiß von der Stirn abwischen - würde man nur mal eine kurze Verschnaufpause bekommen. Kriegt man aber nicht. Stattdessen verkündet Sly Stone: "I Want to Take You Higher", und die Band treibt sich unter Anfeuerungsrufen dazu, das Tempo sogar noch einmal anzuziehen. Selbst Cola mit Mentos zeigt nicht annähernd diese überschäumende Energie.
Wer hört, wie sich die Band hier gegenseitig pusht, mag kaum glauben, dass "Stand!" nicht nur Höhe- sondern auch Endpunkt des gemeinsamen Schaffens der Family Stone ist. Für das, natürlich ebenso Meilenstein-würdige, "There's A Riot Goin' On" schloss sich Bandleader Sly Stone schließlich mit Dutzenden Musikern und einem Doppelzentner Kokain im Studio ein, um in endlosen Sessions Schicht für Schicht zu einem Apokalypsen-Funk aufzutragen. Auf dem, ebenfalls großartigen, "Fresh" war der Family Stone schließlich zerbröckelt, Drummer Greg Errico und Bassist Larry Graham hatten die Band verlassen.
Neben den ausufernden Improvisationen auf dem stark von Hendrix inspirierten "Sex Machine" lotet die Band die Grenzen ihres Zusammenspiels ironischerweise gerade auf dem Song aus, der es nicht vermuten lässt. "Sing a Simple Song" franst in alle Richtungen aus, bricht ständig unvermittelt ab und ist geprägt durch teilweise komplett autonome Einwürfe der Bandmitglieder. Zusammengehalten wird der Laden hier einzig von Greg Errico, der mit maschineller Präzision seine Spur hält. Der Einfluss, den er damit auf die weitere Entwicklung der Musik hat, lässt sich nicht genug unterstreichen: Es dürfte kaum ein Drumpattern geben, das häufiger gesamplet wurde.
Auf "Everyday People" hingegen ist keine Note zuviel gesetzt, Larry Graham (der mit der berühmten Slaptechnik und dem noch berühmteren Neffen) spielt den Song über sogar nur eine einzige. Sly Stone bündelt den gesamten Optimismus des Albums zu einem nur kanpp zweieinhalbminütigen Popwunder über die Hoffnung auf eine Verständigung über Klassen, Geschlechter und ethnische Grenzen hinweg. Eine Hoffnung also, wie sie die Band in ihrer Zusammensetzung längst verkörperte.
Mit seiner beschwingten Eingängigkeit in der Tradition der goldenen Motown-Jahre steht "Everyday People" im denkbar größten Kontrast zum paranoiden "There's A Riot Goin' On" und ist trotzdem kein von sich selbst ergriffener Kitsch à la "We Are The World". Statt pathosgetränkter Gesten gibt Rose Stone Rassismus und Intoleranz der Lächerlichkeit preis, indem sie selbst darüber schmunzelt, wie selbstverständlich ihre Botschaft eigentlich ist: "Different strokes for different folks. And so on and so on and scooby dooby doo-bee".
Ein letztes Mal klare Kante gegen Unterdrückung und für Aktivismus bezieht der Closer "You Can Make It If You Try" und untermauert damit, wie hochgradig politisch Sly and The Family Stone waren. Musikalisch sind sie ohnehin revolutionär: Innerhalb weniger Jahre dreht die Band um ihren genialen Frontmann die Musikgeschichte einmal auf links, hebt den Funk mit aus der Taufe und geht doch weit über diesen hinaus. Auch nach über fünfzig Jahren bleibt diese Musik eine explosive Mischung, die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend ist.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar
Easy 5/5, danke für die Review.
Die Albumwahl für den Meilenstein ist für mich auch nachvollziehbar.
"Stand" verkörpert eben den kompletten Funkwahnsinn und ist damit das perfekte musikalische Bindeglied zwischen dem luftigen "Fresh" und dem umwerfend dreckigen "There's a riot going on".
Für mich eine der wichtigsten Funkkombos überhaupt. Dieses Abgefuckte im Sound, dazu die ausgefinkelten Arrangements, die Technik, die Energie... unerreicht.