laut.de-Kritik

"Nick' mit dem Kopf, Nuttööö!"

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Soziologen sind sich einig: Die heutige Zeit ist schnelllebig wie nie. Unser aller Alltag ist geprägt von Hektik und Stress. Neuer, schneller, besser scheint das Motto, ein Trend jagt den nächsten, die Hype-Maschinerie spuckt ständig den noch heißeren Scheiß aus. Wer sich aus Panik vor akuter Reizüberflutung schon beim nächstbesten Meditationskurs angemeldet hat, sei beruhigt: Es gibt immer noch Dinge, auf die man sich verlassen kann.

So wird man in diesem Leben wohl kein AON-Release mehr zu hören bekommen, das nicht auf die bewährte Formel aus Straßeninhalten und Golden-Era-Beats setzt. Wieso auch? Ssio macht mit "0,9" die Beständigkeit zur Tugend.

Mit seinem Debüt schaffte der Bonner etwas Einzigartiges: Auf einmal war es egal, ob man morgens die Baggypants in die Knie zieht, oder sich in Skinnyjeans presst. Rucksack-beladene Oldschooler fielen vollbärtigen Berlin-Mitte-Hipstern vor Freude in die Arme. Ob vom Splash!-Zeltplatz, oder der Musikstudenten-WG: "Nuttööö!" schallte es von überall her.

An Ssios Erfolgsrezept ändert sich folglich auf seinem Zweitling nur sehr wenig: "Es geht um Drogen, Huren und immer um Mecces. Die Lieblings-Etablissements heißen immer noch Saunaclub, Edelpuff und McFit. Die Geschichten drehen sich weiterhin um Grastickerei, dem daraus folgenden Ärger mit Gesetzeshütern und Frauen (ja, immer noch dickere).

Bei jedem anderen Künstler würde man in der Rolle des Rezensenten jetzt über die mangelnde Themenvielfalt und die nicht erkennbare Entwicklung zum Debütalbum stöhnen, wie das beim schwierigen zweiten Album eben so ist. Im Falle von Ssio aber muss man ihm stattdessen anerkennend auf die Schulter klopfen: Das AON-Zugpferd überspringt die vom Vorgänger immens hoch liegende Latte mühelos.

"Nur der unterste Knopf zu, weil ich Brusthaare hab." Das Rezept aus Street-Rap mit hohem Selbstironie-Faktor büßt nichts an Unterhaltungswert ein. "Scheiß auf eloquente Aussprachen. Ich lass’ alle Facebook-Gangster bauchtanzen." Die verdichtete Reimstruktur gepaart mit Ssios spezieller Technik lassen keine andere Wahl, als brav seinem Befehl zu folgen: "Nick' mit dem Kopf, Nuttööö!"

Im Gegensatz zu "BB.U.M.SS.N." liest sich die Liste der Produzenten wesentlich kürzer: Ausschließlich AON-Hausproduzent Reaf saß für "0,9" am Mischpult. Das Ergebnis hört sich, dank ausbleibender Gee Futuristic-Ausflüge Richtung Dubstep, noch einen Tick stimmiger als der Erstling an. Reaf verdiente sich in der Vergangenheit längst seinen Platz unter der Producer-Elite des Landes. Mit "0,9" liefert er dafür weitere Argumente: Da wird nicht einfach nur Westcoast-Sound adaptiert. Es knarzt, spratzt und bumst mit so viel Liebe zum Detail aus den Boxen, dass man sich förmlich in den mollig warmen Beatteppich einwickeln möchte.

Für den runden Eindruck des Albums sorgen auch die geladenen Gäste: Neben den Labelkumpanen Xatar, Schwesta Ewa und Kalim gibt sich Haftbefehl die Ehre. Der Offenbacher stellt ein deutliches Upgrade zu den Würgereiz-verursachenden 257ers dar, die mit ihrem Grundschul-Niveau einfach nicht so recht zu Ssios Humorlevel passen. "Pissstrahlen auf 808 Bässe" schafft es dagegen, trotz der Kluft zwischen den Herangehensweisen beider Protagonisten, einen Mittelweg zu finden.

"Warum machen alle auf harte Gangster / Doch tanzen im Club wie Schlampen auf David Guetta / Präsentieren wie Schwuchteln die Muskelgröße / Nuttensöhne rappen, doch es klingt wie Puff-Gestöhne." Will man Ssios Haltung zum rückständigen Männlichkeitsbild der Deutschrap-Szene auf den Punkt bringen, bietet das Video zum Titeltrack "Nullkommaneun" die beste Vorlage: Statt kläffendem Schäferhund posiert der 27-Jährige mit einem in Windeln gewickelten Schaf an der Leine.

"Blasen bei YouTubern ist eine neue Sportart im Hip-Hop." Während sich der Rest Rap-Deutschlands mit Twitter-Beefs, Promophasen und Modekollektionen verzettelt, bleibt sich Ssio treu. Auch wenn die großen Überraschungen ausbleiben und die ein oder andere Hook dann eben doch mal etwas eintönig daher kommt, bekräftigt er mit "0,9" seinen Status als außergewöhnliches Phänomen, auf das sich irgendwie alle einigen können. Der Grund ist so simpel, wie schön: "Ficke Nutten mit Herz. Rauche Pflanzen mit Herz. Esse Fritten mit Herz. Schlage Rapper mit Herz." Mache Mucke? "Mit Herz".

Trackliste

  1. 1. Nullkommaneun
  2. 2. Halb Mensch, Halb Nase
  3. 3. Mit Herz
  4. 4. Ich Fibicke Jeden
  5. 5. Pibissstrahlen Auf 808 Bässe (feat. Haftbefehl)
  6. 6. Hör Dir Nicht Dieses Lied An
  7. 7. Nur Schimpfen
  8. 8. Kein Bock (feat. Kalim)
  9. 9. GoPro
  10. 10. Lockige Brusthaare
  11. 11. SIM-Karte
  12. 12. Don & Fuß (feat. Xatar & Samy)
  13. 13. Bitte Keine Anzeige Machen (feat. Schwesta Ewa)
  14. 14. Nullkommaeins

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