laut.de-Kritik
Nahrhafte Soul-Kraftbrühe mit herzhaften Einlagen.
Review von Artur SchulzKönnen, ja dürfen sich Weiße an Soul und Blues versuchen? Vor vielen Jahren verfolgte ich im TV eine mehrteilige Dokumentationsreihe, die sich mit den Ursprüngen und Entwicklungen jener eigentlich Schwarzen vorbehaltenen Spielarten beschäftigte. Nachhaltig im Gedächtnis blieb mir die Aussage eines alten, farbigen Musikers, der zu dieser Frage meinte: "Ob man schwarz sein muss, um den Soul zu fühlen oder den Blues zu haben? Unsinn! Schau: Du kommst nach Hause, Dein Mädchen ist plötzlich fort, hat alles mitgenommen; Dein letztes Geld, den Großteil der Einrichtung, sogar der Kühlschrank ist leer – da hast Du einfach den Blues, es geht Dir beschissen, egal, ob Du nun schwarz oder weiß bist. Und dann kannst Du Dein Lied davon singen".
Einer in Deutschland kann das ganz besonders gut: Soul-Crooner Stefan Gwildis – der mit dem jetzt vorliegenden, fünften Album "Heut Ist Der Tag", seine bislang stärkste Arbeit präsentiert. Hier stimmt und passt einfach alles: Songs, Arrangements, Texte – und die Umsetzung von einem Performer in Höchstform. Gwildis interpretiert seinen Soul, seinen Blues nicht einfach aufs charts-kompatible Geradewohl; nein, er lebt ihn, setzt ihn nuanciert um, und bedient sich dabei einer ganze Palette hautnah nachvollziehbarer Emotionen. Bei den erfolgreichen Vorgängeralben "Neues Spiel" und "Nur Wegen Dir" lag der Anteil aus eingedeutschten amerikanischen Cover-Songs noch weit über 50 %. Diesmal sind es lediglich fünf (handverlesene) Stücke; acht der dreizehn Titel stammen aus der eigenen Werkstatt und entstanden in Zusammenarbeit mit Michy "Taxi nach Paris" Reincke.
Dezent-entspannt empfängt der freundliche Opener und Titeltrack "Heut ist der Tag" den Hörer. "Tanzen Übern Kiez", fordert die deutsche Fassung des Martha & The Vandellas-Klassiker "Dancing In The Street". Gwildis haucht ihm neues, frisches Leben ein: Textlich jumpt der Sänger ausgelassen über Hamburgs wohl berühmteste Ecke und besucht die pulsierenden Stätten über die Große Freiheit bis hin zum Millerntor. Klar, der Kiez ist sein Thema, nicht Pösel-Schnöseldorf oder das hochnäsige Blankenese. "Schnapp' dir deine Kleine/Hilf ihr auf die Beine/Schüttelt die Kisten zu den Beats" - da schmaucht doch, verstohlen an der Ecke stehend, garantiert Hans Albers selig auf der Reeperbahn nachts um halb eins wohlwollend sein Pfeifchen.
Als einer der stärksten Tracks unter den allesamt weit überdurchschnittlichen Songs entpuppt sich Gwildis' Interpretation vom "Yellow Moon" der Neville Brothers. Seine Fassung "Großer Mond" beschreibt packend und nachvollziehbar Skizzen aus dem Leben eines alt gewordenen Arbeitslosen auf einem mondbeschienen Fahrrad-Weg: "Am Lenker klödert Leergut/An der Tanke gibt es Nachschub/Die sind da rund um die Uhr". Wie es dazu kam, ist für Viele nachvollziehbar in den treffenden Zeilen um jene eiskalten Firmen-Optimierer, denen es nie um die eigentlichen Menschen geht: "Als die Sanierer kamen und die Jongleure/Der ganze Zirkus mit all den Clowns/Da war hier mehr los und die zogen's durch/machten so viel Wind, dass du heut' noch staunst". Und eben deshalb in der Hartz IV-Mühle landen mussten.
Die Song-"Amelie" befindet sich - durchaus hoffnungsbeseelt - auf dem suchenden Weg zu den besseren Stationen ihres Lebens. Das gefühlige "Wie Weit Wolln Wir Gehen" besticht mit seiner einfühlsamen Trompeten-Arbeit. Zu den Themen-Schwerpunkten in den Bereichen leben, lieben, suchen, finden, bewahren, hoffen, bangen und herausschreien findet Gwildis stets die passende Intonation mit seiner kratzig-sonoren, aufrichtig-glaubwürdigen Stimme. Ob leise flüsternd, heiter-ausgelassen, sinnlich-angerauht oder leidenschaftlich röhrend – für jeden Song-Part schnappt sich der Sänger die richtige Ausführung.
Herausragend die Arbeit des Background-Chors: Gwildis schwimmt da geradezu im Luxus, denn seine persönliche Kernriege dreier bezaubernder Stimmen ist hierzulande nahezu konkurrenzlos. Die anbetungswürdige San Glaser, die liebliche Julia Schilinski und die betörende Regy Clasen pflegen sämtlich – zum Teil seit vielen Jahren – ihre Solo-Karrieren. Gerade auf diesem Album kommt die individuelle Klasse der drei Künstlerinnen glänzend zum Tragen, etwa in den Gospel-Einlagen bei "Ich bin da" (Bill Withers' "Lean On Me", hier Gwildis im Duett mit Laith Al-Deen) , "Anker werfen, Segel setzen" oder "Amelie". Yeah! Können und Schönheit sind halt ein unschlagbares Team.
Gwildis' brandneue Songs schreien vor allem nach einem: Ihrer Live-Umsetzung. Denn erst auf der Bühne, vor dicht gedrängtem Publikum, ist der Sänger in seinem ureigensten Element. Zusammen mit der erprobten Schar langgedienter Live-Begleiter ringt er dort seinen Titeln neue Nuancen ab, improvisiert und begeistert mit einer Eigenschaft, die selten zu finden ist in heutigen deutschen Landen: Als versierter Entertainer der unverstaubten, klasischen alten Schule. Wer Gwildis bereits live erleben konnte, dem brauche ich an dieser Stelle eh nichts weiter erzählen.
Die persönliche Reife und stetige Weiterentwicklung des Künstlers dokumentiert besonders der (nicht ganz so gut versteckte) Hidden Track "Hinter den Gardinen". Nachdenklich, aber nicht aufgesetzt, und von keinerlei plakativen 08/15-Attitüden verunziert, gelingt ihm hier eine bewegende Studie über meist gern schamhaft verschwiegene Lebens-Dissonanzen bis hin zum Thema Kindesmissbrauch. Es genügen nur wenige Andeutungen, um zu berühren; schwierig in Worte zu fassende Momente sind textlich ausgefeilt und treffend umgesetzt. Das zurückgenommene, aber enorm detailreiche Arrangement samt der starken Komposition hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck.
Dem alten, schwarzen Souler aus der anfangs angesprochenen Dokumentation dürften Gwildis' weiße Umsetzungen gefallen, wenn er noch am Leben ist; was ich – leider - bezweifle. Und ich bin der festen Überzeugung, dass irgendwo da ganz oben ein in diesen Tagen frisch eingetroffener Godfather in Heaven – mitsamt dem dortigen Empfangskomitee Lou Rawls, Otis Redding und Sam Cooke - weit mehr als ein anerkennendes Lächeln für Stefan Gwildis, seine Mitstreiter(innen) und deren gesamte Arbeit übrig haben.
Stefan, lass' die alten Soul-Säcke da oben nicht nur freundlich lächeln. Beweg' sie noch mehr. Lass' sie tanzen und entrückt in die Hände klatschen. Du kannst das, denn: "Wenn einer hier den Laden schmeißt, bin das doch immer noch ich" (aus "Geht Klar"). Exakt. Machen wir es so.