laut.de-Kritik
Auch ein halber Wilson ist das Hören wert.
Review von Manuel BergerWas soll nach "Hand. Cannot. Erase." eigentlich noch kommen? Gut, die Frage konnte man sich bereits nach "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" stellen. Für die neuerliche Antwort nimmt sich Steven Wilson zwar noch ein wenig Zeit, reicht seinen Fans dennoch geschickt ein Zwischenhäppchen.
Denn wie der Name schon sagt ist "4 ½" kein vollwertiges Album des englischen Prog-Messias. So reicht es dann auch nicht an diese heran. Trotzdem: Wo Wilson draufsteht, ist Wilson drin. Und entsprechend stimmt auch die Qualität.
Drei der insgesamt sechs Songs fallen instrumental aus – "Year Of The Plague", "Sunday Rain Sets In", "Vermillioncore". Erstgenanntes setzt auf Ruhe und herzzerreißende Streichersynthies und sorgt früh für einen der intensivsten Momente. Zweiterer kreiert eine ähnliche Atmosphäre, wartet kurz vor Schluss aber mit einem heftigen Ausbruch auf. Die Melodien des Songs würden dabei auch hervorragend auf Wilsons drittes Solowerk passen. So schlägt "Sunday Rain Sets In" musikalisch perfekt den Bogen zu "Vermillioncore" – das tatsächlich aus den Sessions zu "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" stammt.
Dieses fällt sodann auch wesentlich aufgewühlter aus. Stark vom Jazz beeinflusst, entlocken Wilson und Co. ihren Instrumenten allerhand creepy Sounds. Es klirrt und gniedelt, die Synthies wabern unruhig umher. Nick Beggs bereitet am Bass den Groove vor, der im Refrain mittels eines harten Gitarrenriffs seine Ausarbeitung findet. Ein gewisses Porcupine Tree-Feeling lässt sich nicht leugnen.
Erst recht natürlich nicht im anschließenden Closer. "Don't Hate Me" ist schließlich kein Unbekannter. Ursprünglich 1999 auf "Stupid Dream" releast, bietet die "4 ½"-Version knapp eine Minute mehr Lauflänge und vor allem Ninet Tayeb. Ohne sie könnte man ebensogut zum Original greifen, doch die von "Hand. Cannot. Erase." bekannte Sängerin macht tatsächlich den Unterschied. Dank ihr ist dieses "Don't Hate Me" schlichtweg besser. Vollendeter. Ohnehin macht ein Duett hier thematisch Sinn. Davon konnte man sich mittlerweile ja auch live bereits überzeugen.
Bleiben noch zwei Titel: "My Book Of Regrets" und "Happiness III". Beide entstammen hörbar den Arbeiten an "Hand. Cannot. Erase.". Gewissermaßen zeigen sie auch die beiden Seiten des besagten Albums: Einerseits der ausufernde Neuneinhalbminüter, andererseits der kurze, poppige Sonnenscheintrack. "Happiness III" geht sofort ins Ohr, kommt sehr leicht daher – gewissermaßen die Schnittmenge aus "Postcard" ("Grace For Drowning") und dem "Hand. Cannot. Erase."-Titeltrack. Das könnte so ohne Probleme im Mainstream-Radio laufen.
"My Book Of Regrets" dagegen bietet zwar durchaus ebenfalls genug zum Festhalten, schlägt aber auch Haken, wo immer es geht. Mal geht es forsch, beinahe hektisch im Stakkato voran, im nächsten Moment fährt Wilson komplett zurück und frönt seiner kleinen zarten Vocalmelodie. Wilde Eruptionen finden sich ebenso wie ein wunderschönes Gitarrensolo im letzten Drittel, von dem aus Wilson irgendwie den Bogen zurück zum Anfang spannt.
Negatives lässt sich im Grunde nicht anmerken. Allerdings erschließt sich, warum die Stücke von "4 ½" – "Don't Hate Me" einmal ausgenommen – eben 'nur' auf einem Mini-Album vertreten sind und es nicht auf die jeweiligen Hauptreleases geschafft haben. Teilweise fehlt etwas die Stringenz, die Zielgerichtetheit, mit der Wilson sonst zu Werke geht und die einen in der Regel sofort packt. "My Book Of Regrets" zum Beispiel mag ein sehr guter Song sein – zwischen ihm und sagen wir "Routine" von "Hand. Cannot. Erase." liegen trotzdem geradezu Welten, was Dramaturgie und Eindringlichkeit angeht. Außerdem hat man ein wenig das Gefühl, alles schon in irgendeiner Form gehört zu haben. Wer die Maßstäbe so hoch ansetzt, den muss man eben auch daran messen.
Doch egal wie man es betrachtet: "4 ½" ist definitiv mehr als ein bloßer Lückenfüller. Die Neuinterpretation von "Don't Hate Me" bietet Mehrwert, "Happiness III" hat das Potential die "Hand. Cannot. Erase"-Ohrwürmer wenigstens gelegentlich abzulösen, "Year Of The Plague" ist ein atmosphärisches Erlebnis. "4 ½" mag vielleicht nicht mit den 'ganzen' Alben konkurrieren können, aber das war nie die Absicht seines Schöpfers. Und so bleibt nurmehr zu sagen: Danke, Steven Wilson, dass du auch diese Songs mit uns teilst. Sie sind eine Bereicherung.
13 Kommentare mit 27 Antworten
Kleine Korrektur: Nicht 'Vermillioncore', sondern 'Year of the Plague' stammt aus den Raven-Sessions
Quelle: http://stevenwilsonhq.com/sw/track-by-trac…
Spontan würde ich auch vier von fünf geben. "Vermillioncore" ist schon ein feiner Track, der von mir aus auch hätte 20 Minuten gehen können. "Don't Hate Me" habe ich damals schon gemocht und es hat sich auch nicht mit der aktuellen Version geändert, wurde durch die Stimme von Ninet nur noch aufgewertet. Ansonsten würde ich sagen, gibt es da keine großen Überraschungen. Der "Titeltrack" (Books of Regrets) setzt sich aus sehr bekannten Parts (Time Flies z.B. ) zusammen. Insgesamt genießbar, aber man versteht beim hören, warum es diese Songs nie auf die besagten Alben geschafft haben.
Logarytms: ERBSENZÄHLER *g*
...ich denke auch das so wie es in der Rezi steht, die
Songs nicht an die letzten 2 SW Alben anstinken können, aber wie schon vom Vorturner Berger erwähnt: Ist halt eine "Zwischenscheibe" mit Material das bei Mr. Wilson wohl in Hülle und Fülle rumliegen muss...wobei die 3 Songs die er auf dem letzten Konzert zum Besten gegeben hat(von eben dieser Scheibe)waren doch echt top!
P.S. war auf dem Konzert am 12.1. in Stuttgart...
P.P.S. Das Konzert(speziell Hand.Cannot.Ease. am Stück gespielt)war vom Feinsten!!!
Ich gebe vorab mal auch 4 Pünktchen.
Das Teil klingt für mich sogar besser als HCE ! Warum ? Für mich wirkt es einfach freier, losgelöst vom Kontext eines Konzeptalbums. Dieses Unangestrengte tut dieser EP unheimlich gut, die Tatsache, hier kein Meisterwerk sondern "nur" ein Zwischenspiel zu veröffentlichen bringt die nötige Lockerheit. Dazu klingt es ab und an auch mal wieder nach PT, was ich persönlich sehr schätze !
Wow, also die B-Seite ist besser als was sonst viele Musiker in Jahren veröffentlichen. Gefällt mir sehr gut. Für mich war HCE sowieso das Album des letzten Jahres.
Was Steven Wilson als "Ausschuss" produziert und hier glücklicherweise dann doch veröffentlicht, ist um Längen besser als so manches Primäralbum der meisten Künstler. Der Mann ist einfach wahnsinnig begabt.