laut.de-Kritik
Überstunden in der Melodrama-Fabrik.
Review von Yannik GölzAuf "Constant Bullshit" singt Summer Walker "I was only trynna live my life" - und es ist eine dreiste Lüge. Zum Glück: Denn die R'n'B-Sängerin zementiert sich mit dem Follow-Up zu ihrem 2020-Album "Over It" als dominante Kraft ihres Genres. Und das ginge nicht, wenn dieses fulminante Break-Up-Projekt nicht eine Überstunden schiebende Melodrama-Fabrik wäre: "Still Over It" macht in der Stunde Laufzeit ein Fass nach dem anderen über Ex-Partner und Produzent London On Da Track auf. Aber trotz des thematischen Fokus geht ihr nie das Feuer aus.
Man spürt, dass Walker eine grundsätzliche Affinität zu den klassischen Genre-Konventionen mitbringt. Auch, wenn sie klar ein Kind des Trap-Zeitalters ist und musikalisch natürlich zu 808-Grooves klingt, finden sich im Laufe der Tracklist viele Anleihen an klassische Showmanship und ältere Epochen des Genres. Die Vocal-Arrangements klingen trotz teils exzessivem Autotune-Einsatz reich und opulent, ihre Umsetzungen von Song-Strukturen zeigen technisches Fingerspitzengefühl, ihr ganzes Songwriting trägt Ambition, die sich auch in der exzellenten Produktion spiegelt. Auch wenn hier nämlich in einem engen Genre-Radius gearbeitet wird, funktioniert zum Beispiel das Sequencing und die Varianz der Grooves fantastisch.
So wird es kaum langweilig, wenn zwischen dem Kopfnicker-Rhythmen auf "Circus" hin zu den ruhigen, melancholischen Tunes auf "Switched A N*gga Out" über die Pharrell-Produktion auf "That Right There" bis hin zur temporeichen Hit-Single "Ex For A Reason" das ganze Spektrum der Genre-Konvention ausgeschöpft ist. Allerhöchstens mit dem etwas exzessiven Fünfminüter "Screwin", der in seiner minimalen Bedroom-Jam-Atmosphäre von zwei akustischeren Nummern gefolgt wird, entsteht eine gewisse Länge. Der Rest der eigentlich dichten Tracklist? Sie fliegt.
Das liegt aber nicht zuletzt daran, dass Walker selbst als Performerin zwar gleichzeitig alle Kompetenz und alles Talent mitbringt, um ein Pacing aufrecht zu erhalten, dann aber in als Storytellerin völlig natürlich und spontan wirkt. Sie bringt alle Über-Emotionalität, alles Overthinking, alle Empathie, alle Brutalität mit und baut daraus Geschichten, die abstrakte Break-Up-Tropen in ein knallhartes Konkret abbilden. "Had me thinking that I was average when you really was to blame" singt sie zum Beispiel auf "Throw It Away" und macht Themen wie Gaslighting in ungesunden Beziehungen spürbar, ohne auf irgendeine ausgekaute Worthülse zurückzugreifen.
Es gelingt ihr so oft, die genau richtige Beobachtung in genau den richtigen simplen, konversationellen Worten aufzuschreiben. Schon eine einfache Beobachtung wie "normally, I'm quick to switch up my playlist" klingt aus ihrem Munde vielsagend. Sie platziert sie gut, gibt angemessenen Kontext, entwickelt ihre Ideen. Es macht Spaß, ihr zu folgen und sich auf ihre Stimmungen einzulassen. Nicht umsonst lässt sie Cardi B via Voicemail anmoderieren, die ihr rät, einfach all den Bullshit in die Musik zu packen, denn wenn der Bullshit in der Musik ist, dann profitiert man selbst, nicht die anderen.
Wenn es einen Song gibt, der diese Weisheit schließlich zur letzten Konsequenz treibt, dann ist es der brutalisierende Callout-Song "4th Baby Mama", auf dem sie London On A Track inklusive seiner Mutter und all seiner Freunde komplett in Flammen aufgehen lässt. Wenn sie ihm vorwirft, dass er ein von der Mutter verhätschelter Fuckboy ist, der anderen Fuckboys nacheifert und sie über ihre ganze Schwangerschaft allein hat sitzen lassen, dann wähnt man sich mit ihr im selben Raum, fühlt sich fast schon unangemessen, die ganzen Details mitzuhören, aber fühlt sich von diesem Prime-Melodrama und dieser zwischenmenschlichen Schlachtung doch königlich unterhalten.
Trotzdem macht "4th Baby Mama" nicht den besten Song hier aus. Der geht nämlich klar an das spektakuläre Ari Lennox-Feature "Unloyal". Nicht nur, weil die beiden hier zu irrer Synergie ihre besten Vocals auf eine noire, klassische R'n'B-Instrumentierung auffahren, sondern vermutlich vor allem für das überleitende Saxophon-Solo. Das war schon beim ersten Hördurchgang der Moment, in dem klar wurde, dass hier nicht irgendein gerade populäres R'n'B-Fastfood läuft, sondern ein ambitionierets All-Out-Projekt. "Still Over It" zeigt eine Protagonistin, die zwar Genre-Schwarzbrot produziert, aber bereit ist, den ganzen, verdammten Weg zu gehen. Das Album bombt den Hörer mit Melodrama und Trennungs-Schmerz zu, geht durch alle Phasen und Hins und Hers des Prozesses und lässt keine Phase aus, um nicht doch noch ein bisschen Snark oder Atmosphäre herauszuwringen.
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