laut.de-Kritik

Das Utopia zwischen Shoegaze und Electronica.

Review von

Kultalben entstehen oft da, wo in den Gezeiten der musikalischen Entwicklungen eine alternative Zukunft aufblitzt. Wo zwischen den großen Zahnrädern der Musikgeschichte kurz etwas aufflammt, das wie ein uneingelöstes Versprechen eine Spur dessen verewigt, was hätte sein können. Es gibt dafür kein treffenderes Beispiel als "Velocity : Design : Comfort", den legendären Zweitling der San Francisco-Band Sweet Trip, auf dem ihre Loop-getriebenen Indietronice-Soundscapes eine Schnittstelle zwischen Shoegaze und IDM finden, die sich so logisch anfühlt, als wäre 2003 ein Hybrid aus diesen beiden Nischen-Genres zum wichtigsten Sound der Gegenwart gewachsen. Und auch, wenn er das nicht tat, hört sich dieses Album immer noch wie ein Orakel über die Zukunft der Musik an.

Dabei kann man die Wurzeln dieses Albums verfolgen und logisch einordnen, wie es zu Sweet Trip gekommen ist: Auf der einen Seite steht Roberto Burgos, ehemaliger Metal-Gitarrist, der in den späten Neunzigern mit Synthesizern und Electro-Demos experimentiert, auf der anderen Seite steht Valerie Cooper, eine Kennerin der psychedelischen Musikgeschichte und eine der verträumtesten Stimmen, die je gesungen haben. Seit dem Ende der Neunziger stehen auf einer Seite Sonic Youth, Slowdive und My Bloody Valentine, auf einer anderen Seite bauen weltweit Kids DIY-Raves zu Aphex Twin, Jungle Music und Drum'n'Bass auf. Die beiden Musiker und eine High School-Freundin an den Drums interessieren sich für beides, und das Label Dalia Records ist von Tag eins ein Hort dafür, mit diesen Sounds zu experimentieren.

Beim ersten Hören tun sich erst einmal 75 Minuten zwischen Dream Pop, Shoegaze und elektronischen Glitches auf, die ein wenig erschlagend wirken können. Vor allem, weil "Velocity : Design : Comfort" nicht unbedingt die spannendste Musiktheorie an den Start bringt. Die Akkord-Folgen können generisch ausfallen, die Sound-Designs lassen sich oft auf exzessives Layering von Bitcrusher und Reverb herunterbrechen. Sweet Trip haben ganz bestimmt keine innovative Geheimformel gefunden, um eines ihrer angezapften Genres komplett neu zu beleben. Was sie gefunden haben, ist ein unglaubliches Gefühl für Atmosphäre, dafür, den richtigen Loop zur richtigen Stelle einzufangen, sie subtil zu entwickeln und einzufangen.

Es entstehen immer wieder kurzweilige, verträumte Banger, zum Beispiel der verzerrte Dream Pop-Abriss auf "Dsco", auf dem Bitcrusher-Gitarren einen süß-melancholischen Loop über subtile Synth-Rotationen wiederholen. Dieser organische Moment folgt direkt auf das sperrige, Aphex Twin-eske Intro "Tekka", das wie britischer IDM um die Jahrtausendwende par excellence klingt. Auch wenn beide Momente genre-technisch weit auseinanderliegen, würde man beim ersten Hören gar nicht so recht hinterfragen, dass sich gerade das ganze instrumentale Ensemble geändert hat. Die Platte ist einfach so gut darin, Stimmung und Klangtextur in einen homogenen Guss zu bringen.

Und diese Harmonie ermöglicht dann auch, diese kürzeren Klang-Impulse auf den längeren Songs völlig zu synthetisieren. "Sept" hält zum Beispiel acht Minuten an und baut sich auf, als hätte man Burial gezwungen, einen seiner Songs mit einem Post Rock-Rise auszustaffieren. "Velocity" klingt wie eine ausgeweitete Rave-Nummer für den Chill-Out-Floor, unterkühlt und tiefenentspannt, Musik fürs Highsein im Sonnenaufgang, auf der dann in der zweiten Hälfte eine Gitarre mit einem Noir-Sound aufspielt, die so direkt auf Airs "Moon Safari" gepasst hätte. Irgendwie spielen die musikalischen Elemente im ganzen Projekt miteinander Staffellauf. Denn gerade nachdem mit "International" eines der radikal reduziertesten Ambient-Stücke sich über zehn Minuten gestreckt hat, kommt mit "Chocolate Matter" ein fünfminütiges Rausch-und-Reverb-Geschredder, das die besten Momente von My Bloody Valentines "Loveless" evoziert.

Die größten Kudos stehen Sweet Trip wirklich für ihre Nutzung von Loops zu. Ihre Kunst ist es, verschiedene Musikstile miteinander zu unterwandern, langsame und kaleidoskopische Momente zu erzeugen und die Hörerinnen und Hörer immer wieder dazu zu zwingen, sich auf die jetzige Textur einzulassen. Und da überrascht es auch gar nicht, dass "Velocity : Design : Comfort" so ein Musiknerd-Album geworden ist. Die Referenzen fühlen sich dicht und zahlreich an und man hat vielleicht ein wenig mehr Spaß daran, wenn man die verschiedenen Momente der Musikgeschichte identifizieren kann, die ihren Weg in diese weitflächige, virtuose Kuration gefunden haben.

Und ich könnte lange Zeit damit verbringen, nur auf Stellen in der Tracklist zu verweisen und darüber zu schmachten, wie schön ich sie finde. Coopers Gesang gegen die kindlich-nostalgischen 8bit-Synthesizer auf "To All Dancers Of The World, A Round Form Of Fantasy", bis der Song sich dann doch entflammt wie Sonne durch die Wolken? Die kristallinen Drum And Bass-Licks auf dem letzten Drittel von "Pro: Lov: Ad"? Die tausend Höhenmeter Klangtiefe, die der leitende Synthesizer auf "Velocity" erzeugt?

Mit "Velocity : Design : Comfort" haben sich Sweet Trip in den Pantheon des Sound-Designs bewegt und musikalische Leerstellen zwischen Genres gefüllt, von denen wir bis heute zehren könnten. Kaum ein Album gibt mir so essentiell das Gefühl, dass ich mich mit jedem neuen Hören noch länger damit beschäftigen möchte, dass ich wirklich keine Sekunde weghören darf, weil jede Variation oder jede natürliche Mutation eines Loops in den nächsten eine neue kleine Welt in diesem musikalischen Makrokosmos bedeutet, den zu erkunden man quasi nie müde wird. Und auch, wenn das Album eigentlich ein Denkmal an die zahlreichen zitierten Musikstile der Jahrtausendwende sein müsste, fühlt es sich mehr als diese keine Sekunde gealtert an.

Vom Cover bis zur letzten Note fühlt sich "Velocity : Design : Comfort" wie ein radikaler ästhetischer Futurismus an, der in seiner Frische davon konserviert wurde, dass die Musikgeschichte nur vereinzelt darauf zurückgegriffen hat. Aber auch zwanzig Jahre später ist die Wiederentdeckung dieses Projekts noch nicht abgeschlossen. Ich kann mir vorstellen, dass die Zukunftsmacherinnen und -macher der Gegenwart und Zukunft noch zahlreiche Ideen aus dieser musikalischen Kyrokammer gewinnen können. Denn dieses Album von 2003 klingt heute noch wie ein Utopia.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Tekka
  2. 2. Dsco
  3. 3. Velocity
  4. 4. Fruitcake And Cookies
  5. 5. Sept
  6. 6. Pro: Lov: Ad
  7. 7. Design: I
  8. 8. International
  9. 9. Dedicated
  10. 10. Chocolate Matter
  11. 11. To All The Dancers Of The Worls, A Round Form Of Fantasy
  12. 12. Design: 2: 3

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